Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Queeres Split

Zur Geschichte des Kollektivs queerANarchive

Tonči Kranjčević Batalić


Vor 13 Jahren gründeten wir in Split, der zweitgrößten Stadt Kroatiens, das Kollektiv queerANarchive. Die Jahre davor waren in erster Linie von zivilem Ungehorsam gegen die Privatisierung und Unzugänglichmachung öffentlicher Räume gezeichnet. Dazu verbanden sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen im ganzen Land bei großen Protestaktionen zum Schutz städtischer Plätze und Naturparks sowie zur Öffnung der öffentlichen Räume für unabhängige Kulturveranstaltungen. Solche Proteste fanden unter anderem in Zagreb, Dubrovnik, Pula, Rijeka, Karlovac und Split statt. In dieser Atmosphäre wurde die Idee eines Kollektivs geboren, das sich queerer (Gegen-)Öffentlichkeiten und deren Räume annehmen sollte.
Die Initiative zur Gründung des Kollektivs und zur Auseinandersetzung mit der queeren Kultur war auch von einem privaten Bedürfnis meinerseits angetrieben. Es gab damals in Split noch keine queere Community, keine queeren Orte, Veranstaltungen oder Aktivitäten. All das musste erst erfunden werden, was ich mir gemeinsam mit einigen Mitstreiter*innen zum Ziel machte. Zusammen mit Split Pride und Queer Sport Split trug dies zur Initialzündung der heute sehr lebendigen Queer-Szene bei.
2015 trat das queerANarchive einem lokalen Verbund bei, der Platforma Doma mladih (Plattform der Jungendzentren). Dies war eine Gruppe unabhängiger Kunstkollektive und Vereine, die durch die Gemeinschaftsnutzung von Räumen im Jugendzentrum Split Kunst-, Bildungs- und Sozialprogramme organisierten. Dieses Zentrum war an sich ein Relikt aus der Zeit des Sozialismus – ein Multifunktionskulturbau namens Haus der sozialistischen Jugend, der von 1979 an errichtet, jedoch niemals fertiggestellt worden war. Trotzdem bot das Jugendzentrum ab 1994 Platz für die organische Entwicklung einer unabhängigen Kultur- und Kunstszene.1 Wie viele andere zivile Organisationen im Land möchte die Plattform das hybride Modell einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit partizipatorischer Leitung umsetzen.2
Im Jahr 2018 gründete das queerANarchive auf Grundlage der Erfahrungen mit Doma mladih eine weitere Plattform. Alle LGBTIQ-Vereine begannen gemeinsam mit dem Aufbau eines soziokulturellen Zentrums für die lokale Community. Die Errichtung eines „safe space“ für die kulturelle und soziale Teilhabe sollte sich als zentral für die Stärkung des Selbstvertrauens der queeren Menschen in Split erweisen. Aus dieser Unternehmung gingen mehrere Kunstinitiativen hervor. Nikolina Banić zum Beispiel, eine queere Aktivistin und Mitorganisatorin der Split Pride, sammelte ein Team von Amateurfilmer*innen um sich und produzierte in Zusammenarbeit mit dem Cine Club Split3 und dem queerANarchive zwei Staffeln einer schwul-lesbischen Internetserie namens Maništra pomidore (Pasta mit Tomaten, 2017–19).4 Die auf Kroatisch gedrehte und im ganzen Land verbreitete Serie handelt vom Leben zweier Lesben und eines Schwulen, die sich in Split eine WG teilen. Man verfolgt ihre Alltagsabenteuer, wobei die Serie humorvoll die Herausforderungen, mit denen LGBTIQ-Menschen in Split konfrontiert sind, kommentiert. Der Erfolg dieser Serie führte zu einem weiteren Projekt unter dem Titel PrideTV (2020–22).5 Angelehnt an das übliche Fernsehnachrichtenformat wurde vor einem Green Screen gedreht, wofür eigens eine Wand im LGBT-Zentrum Split grün gestrichen wurde. PrideTV brachte witzige queere Kommentare, aber auch scharfe Kritik an aktuellen gesellschaftspolitischen Ereignissen aus der Perspektive von LGBTIQ-Personen. Wie Nikolina in einem Gespräch bemerkte, entstanden sowohl PrideTV als auch Maništra pomidore „aus reinem Enthusiasmus und aus Liebe zur LGBTIQ-Gemeinschaft und ihren Sympathisant*innen“.
Seit seiner Gründung widmete das queerANarchive seine künstlerischen Recherchen der Dokumentation und Spurensuche von Praktiken nicht-heterosexueller Menschen in Split. Die Idee unseres ersten Projekts begann mit Blog-Einträgen und gelegentlich erscheinenden Fanzines über den Alltag in den Cruising-Arealen der Stadt. 2014 brachte das Projekt Interspaces (of faggotry) dann Künstler*innen und Wissenschaftler*innen wie die Soziologin und Fürsprecherin des öffentlichen Raums Diana Magdić, den freien Kurator und Museologen Vladimir Tatomir, den Kartografen Antun Sevšek und mich, einen Kunsthistoriker und Kurator, zusammen. Unsere Untersuchung wurde von der Beobachtung angestoßen, wie schnell sich die kroatische Queer-Community veränderte, einerseits durch den akzeptierten LGBT-Aktivismus, der sich an der Übernahme heteronormativer Standards orientierte, und andererseits durch die neuen Datingpraktiken schwuler Männer auf der Basis von Online-Datingportalen. Dabei inspirierte uns das Diktum Michel de Certeaus: „Die Geschichte beginnt zu ebener Erde, mit den Schritten.“6 Also zeichneten wir die Schritte von Cruisern auf, sammelten Gegenstände von Cruising-Arealen und dokumentierten die dortigen Räume per Video. Damit sollte diese kaum sichtbare Praxis von Männern, die sich auf die Suche nach Sex begeben oder auch nur Kontakte zu anderen Männern knüpfen, besser einschätzbar werden. Dieser genauere Blick legte alternative Formen sozialer, intimer und freundschaftlicher Beziehungen zwischen Männern frei. Das gesammelte Material wurde in Split und Zagreb mit Ausstellungen und in einer Publikation dokumentiert. Dieses erste Projekt gab schließlich das Programm des Kollektivs in den folgenden Jahren vor, in denen die Besonderheiten der queeren Kultur im weitesten Sinn, queere Geschichten, Erinnerungen und Archive im Mittelpunkt bleiben sollten.
2016 und 2017 führte das queerANarchive unter dem Titel (In)visible traces of a history eine historische Recherche durch. Das Team aus Kurator*innen und Künstler*innen – Barbara Matejčić, Ivana Čuljak, Marko Gutić Mižimakov, Ivan Jamić, Tanja Minarik, Petra Mrša und ich – wagte sich damit in das Gebiet der Erinnerungen, nämlich jener Männer, die sich vor gar nicht allzu langer Zeit im Geheimen mit anderen Männern treffen mussten, um sich intim und romantisch selbst zu verwirklichen. Unser Bedürfnis, diese Erinnerungen zu sammeln, fußte auf einem undeutlichen Gefühl des Verlusts, als dessen Ursache wir das Scheitern des kulturellen Gedächtnisses begriffen, unkonventionelle Lebensweisen zu integrieren. Also sammelten wir oral histories von Generationen von Männern vor unserer Zeit. Wie trafen sie sich? Wie knüpften sie Kontakte? Da einschlägiges Bildmaterial über ihre Geschichten fehlte, hielten wir uns an Archivmethoden wie Wiederholung, Reproduktion und Neuinterpretation.7 Wir luden Gruppen junger Künstler*innen und Aktivist*innen ein, lasen und diskutierten mit ihnen die gesammelten oral histories und begaben uns dann mit Foto- und Videokameras zu echten und teils neuen Cruising-Arealen, um ausgewählte Situationen nachzustellen und zu dokumentieren. Diese Materialien wurden zu neuen Dokumenten einer gemeinsamen queeren Geschichte, die ohne sie verloren gegangen wäre. Die Ergebnisse der Recherche wurden 2017 in einer Ausstellung in Zagreb und Split präsentiert, die von einer Publikation begleitet wurde.
Zurzeit betreibt unser Kollektiv mehrere Programmschienen, darunter Einzelausstellungen queerer Künstler*innen, ein Festival, aber auch Kreativworkshops für lokale Communitys, bei denen beispielsweise Porno-Tarotkarten, Siebdrucke, Analogfotos und Digitalvideos hergestellt werden. Rund um das Ausstellungsprogramm entwickelten sich nach und nach Residencies und Produktionsaktivitäten. Sobald eine Community rund um das Kollektiv aufgebaut war, wurde auch ein Club-Programm mit Fokus auf inklusive safe spaces und queere DJs ins Leben gerufen, zum Beispiel der Klub Kocka.8
Zeitgleich mit dem queerANarchive wuchs auch die queere Community in Split. Während ich diesen Text schrieb, fand in der Stadt zum siebten Mal das qFEST statt, das sehr viele Menschen, sowohl als Teilnehmende als auch als Publikum, anzog. Igor Mušić, ein Bürokollege des queerANarchive, meinte dazu, dass er nun endlich wisse, was mit „queere Community von Split“ eigentlich gemeint sei. Und Marko Gutić Mižimakov, bildender Künstler und langjähriger Mitarbeiter des Kollektivs, merkt an: „Ausgerechnet in der grobsten Stadt Kroatiens ist nunmehr queere Kunst, sind queere Diskurse und Ausdrucksformen im Programm von queerANarchive ständig präsent. Einmal tritt eine lokale Dragqueen auf, am nächsten Wochenende im selben Raum wieder ein etablierter Künstler aus Wien, dann findet ein Aktivist*innen-Workshop aus Brasilien statt. Und alle werden gleichbehandelt, bekommen denselben Raum, dieselbe PR usw.“9

Im Geiste der transnationalen queeren Gemeinschaft, der gegenseitigen künstlerischen Anerkennung und der gemeinsamen Kreativität seien hier alle Künstler*innen genannt, die auf ihre Art zu dem beigetragen haben, was das queerANarchive heute ist: Darko Aleksovski, Bram Belloni, Elfrida Bergman, Željko Blaće, Dyveke Bredsdorff, Denis Butorac, Kiernan Cobarrubia, Hrvoje Cokarić, Ivana Čuljak, Caitlin Davis Fisher, Andrea Giuliano, Carmen Grimm, Marko Gutić Mižimakov, Masha Godovannaya, Vigur Gurdu, House of Dynasty, Ana Hoffner ehemals Prvulovic*, Lana Hosni, Callum Leo Hughes, Tara Ivanišević, Helena Janečić, Ana Jelušić, Ena Jurov, Hana Jušić, Josip Knežević, Maria Kniaginin-Ciszewska, Tihana Mandušić, Ivana Kragić Marinić. Antonio Kiselić Ledinski, Marin Lemić, Rafael Medina, Irene Melix, Pol Merchan, Martyna Miller, Ana Opalić, Ines Kotarac, Sanja Kovačević, Sholem Krishtalka, Hrvoje Kruljac, Vianney Le Caer, Sara Lindquist, Ronald Panza, Martin Petrus, Aleksandar Macko Puhek, Diana Magdić, Guilherme Maggessi, Barbara Matejčić, Maja Marković, Maria Mitsopoulou alias Maria F Dolores, Rafal Morusiewicz, Petra Mrša, Jörg Meier, Tanja Minarik, Peter Mollet, Karen Nhea Nielsen, Zvonimir Novak, Gabi Nunez, Bradley Secker, Anni Simati, Lara Tabet, Vladimir Tatomir, Nika Pećarina, Luka Pešun, Sonja Pregrad, Karol Radziszewski, Cigdem Yuksel, Influencerica Ulla, Darko Škrobonja, Katarina Šoškić, Petar Vranjković, Liliana Zeic, Paweł Żukowski und alle, die in Zukunft unseren Weg kreuzen werden.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Hintergrundinformation über die Geschichte von Doma mladih und seiner Ausgestaltung findet sich bei D. Peračić/M. Veljačić/S. Tolj/E. Višnić, We need it – we do it: Croatia at the 15th International Architecture Exhibition/La Biennale di Venezia 2016 Reporting from the Front [Kat.]. Platforma 9.81 2016.
[2] Weiterführendes auf https://dom-mladih.org/en/youth-center-split/ sowie https://pdm.hr/platforma-doma-mladih/
[3] Mehr zum Cine Club Split auf https://kinoklubsplit.hr/info-eng/
[4] https://vimeo.com/channels/1299986
[5] https://www.youtube.com/playlist?list=PL6wU81qz9Mtq6PiEk48eTh_FOBcObRiwm
[6] Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns. Berlin 1988.
[7] Unsere Methode ist an Jacques Derridas Begriff des Archivs angelehnt, der mit Freuds Idee des Todestriebs in Zusammenhang steht: „Das Archiv hat statt an Stelle einer ursprünglichen und strukturellen Schwäche besagten Gedächtnisses.“ (Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression. Berlin 1997, S. 25)
[8] In diesem Rahmen produzierte Marko Gutić Mižimakov das kurze Experimentalvideo Dragon Hunt.
[9] Marko Gutić Mižimakov in einem Interview für Vizkultura; https://vizkultura.hr/intervju-marko-gutic-mizimakov/