Heft 3/2023 - Queer Postsocialist
In der postjugoslawischen Landschaft, die geprägt ist von der verheerenden wirtschaftlichen Depression im Zuge des gewaltsamen Aufstiegs des neoliberalen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawiens, ist man per se ein diasporisches Subjekt – denn man stammt aus einem Land und einem System, das im linearen Raum-Zeit-Gefüge zwar nicht mehr existiert, nach wie vor aber eine enorme mobilisierende und aktionistische Kraft darstellt. Für die stetig im Wandel befindlichen Communitys, zu denen Kulturschaffende, Intellektuelle, Künstler*innen und Aktivist*innen gehören, die sich als jugoslawisch betrachten und weiterhin fest an das sozialistische Jugoslawien als radikales politisches, wirtschaftliches und kulturelles Projekt glauben, ist das Diasporische immer schon queer oder vielmehr queerend (queering): ein antikategorischer Prozess und immer eine Verbform. Es handelt sich um eine Bewegung, die sich der Logik des linearen Fortschritts, wie sie in der Regel mit dem kapitalistischen Glücksversprechen verknüpft ist, entschieden verweigert. In dieser Hinsicht stellt die queere jugoslawische Diaspora eine Rückkehr zum utopischen Versprechen einer revolutionären Politik dar, die jedoch die Unvermeidlichkeit eines dystopischen Weltuntergangsszenarios, das für gewöhnlich so viele der zeitgenössischen linken politischen, sozialen und kulturellen Aktionen bestimmt, entschieden infrage stellt.
In Standarddefinitionen wird die Diaspora häufig als eine Bevölkerung beschrieben, die jenseits ihres geografischen Herkunftsorts auf verschiedene Regionen verstreut ist. In vielerlei Hinsicht geht es bei einer Diaspora wie der jugoslawischen jedoch vorrangig um Zeitlichkeit: um das Davor und Danach und das, was zwischen dem Davor und Danach liegt und die Binarität zwischen beiden aufhebt. Die jugoslawische Diaspora ist in erster Linie eine zeitliche. Eigentlich ist die Diaspora in diesem Fall sogar zeitlos, außerhalb der Zeit, gleichzeitig immer zu früh und immer zu spät. In ihrem Beharren auf einem Staat, den es offiziell gar nicht mehr gibt, der vielmehr zu einer Geisteshaltung wird und ständig affektiv, mikropolitisch, künstlerisch und mittels Aktivismus reproduziert wird, ist sie eine queerende Form von Zeitlichkeit. Für jene von uns, die nach wie vor überzeugt sind, dass das sozialistische Jugoslawien ein radikales politisches und gesellschaftliches Projekt war, bedeutet die Definition als jugoslawisches Subjekt heute immer auch eine antifaschistische, antikapitalistische, feministische und ja, auch queere Positionalität, eine radikal subversive Ablehnung feststehender Kategorien, Seinszustände, Positionalitäten, Zeitlichkeiten und Identitäten. Sich heute als jugoslawisch zu definieren, heißt, die Logik der Unvermeidbarkeit des Kapitalismus abzulehnen, indem man darauf beharrt, dass der real existierende Sozialismus in Jugoslawien eine erfolgreiche Plattform für intersektionale emanzipatorische Projekte geboten hat, durch die die Grenzen zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, Klasse, „race“ und Sexualität überwunden, ja sogar aufgehoben wurden. Auch die Tatsache, dass sich Jugoslawien zeit seines Bestehens weder mit der Sowjetunion noch mit dem kapitalistischen Westen verbünden wollte und stattdessen zusammen mit einer Reihe afrikanischer und asiatischer Staaten Gründungsmitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten wurde, zeugt von einem inhärenten Nicht-Binarismus des Landes als politischem Grundprinzip.
Der Filmemacher Želimir Žilnik,1 ewiges Enfant terrible jugoslawischer und diasporischer jugoslawischer Kulturräume, skizziert in seinen Arbeiten zahlreiche sich überschneidende Bögen eines jugoslawischen Radikalismus. Als Pionier der „Schwarzen Welle“ im jugoslawischen Film der 1960er- und frühen 1970er-Jahre bleibt Žilnik bis heute den Prinzipien des radikalen Amateurfilms treu und lehnt geschliffene Filmformen, Ästhetiken und Narrative ab. Das mittlerweile fast sieben Dekaden umfassende Werk Žilniks widersetzt sich beharrlich, sich selbst oder eines seiner zahlreichen Themen in ein besseres Licht zu rücken. Von der Dokumentation des Alltags von Romakindern, Frauen aus der Arbeiterklasse der Obdachlosen in Jugoslawien bis zu jugoslawischen Gastarbeiter*innen im Deutschland der 1970er-Jahre, von Sexkomödien, die sich über normative Sexualpraktiken hinwegsetzen, bis zu ethnische Grenzen überschreitenden Liebesgeschichten zwischen Serb*innen und Kosovar*innen – immer wieder provoziert Žilnik und fordert die Regeln des Anstands heraus, indem er unsaubere Realitäten und Identitäten offenlegt, die sich in keine festgelegte Ordnung fügen. Mit einem seiner radikalsten Werke (und das will bei Žilnik etwas heißen), dem Spielfilm Marble Ass (1995), schafft Žilnik einen Film, der für das bereits durch die zerstörerische Gewalt des Balkankriegs in den 1990er-Jahren angeschlagene und paralysierte System einen Schock darstellt. Im Zentrum des inmitten ethno-nationalistischer Unruhen, Gewalt und Kriegstreiberei angesiedelten und mittlerweile zum Kultklassiker avancierten Marble Ass stehen zwei trans* Protagonistinnen, gespielt von den trans* Amateurschauspielerinnen Merlinka (Vjeran Miladinov, im Film Merlin, nach Marilyn Monroe),2 und Milja Milenković (als Sanela). Merlin und Sanela sind Sexarbeiterinnen und schaffen sich eine queere Diaspora, in einer Zeit und an einem Ort, die von J. Jack Halberstam als queer bezeichnet wurden.3 Entgegen der zeitlichen und räumlichen Logik der sie umgebenden Gewalt werden die beiden trans*-Frauen als die einzigen vernünftigen Figuren gesehen, die sich Hass und Zerstörung verweigern. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe,4 gibt es in dem Film eine brillante Umkehrung – es ist das ethno-nationalistische „Ideal“ des Cis-Hetero-Mannes, das als krank entlarvt wird (Merlin und Sanela verwenden hierfür gern den Begriff „sicko“), während die trans* Sexarbeiterinnen als Einzige zu affirmativen und wirksamen Formen des Affekts fähig sind. Merlin bezeichnet ihre Sexarbeit sogar als eine Art von Humanismus: Im Angesicht des allumfassenden Hasses bietet sie Liebe und körperliches Vergnügen. Die räumlich und zeitlich queere Enklave von Marble Ass wird als die Alternative zur cis-hetero-nationalistischen Gewalt gezeigt, die das Erbe des sozialistischen Jugoslawiens aktiv vernichtet. Merlin und Sanela stehen für die Blockfreiheit Jugoslawiens, weil sie am nicht-binären, intersektionalen emanzipatorischen Vermächtnis des Landes festhalten, das durch die toxische Maskulinität überall um sie herum zerstört wird (hier verkörpert durch die Figur des Kriegsveteranen Džoni). Auch wenn der Film inzwischen fast 30 Jahre alt ist, stellt er in der kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Landschaft des diasporischen Jugoslawiens nach wie vor eine der radikalsten queeren Interventionen dar, was die queere Autorin und Filmkritikerin Mima Simić kürzlich zu der Bemerkung veranlasste, Žilnik sei der „Queerste von uns allen“5.
Queering Tito
Durch eine queere Wendung des Schicksals ist Josip Broz Tito, ewiger Präsident des sozialistischen Jugoslawiens, zu einem beliebten Objekt in der Arbeit zahlreicher nicht-konformer jugoslawisch-diasporischer Künstler*innen geworden. Da Tito als Verkörperung des jugoslawischen Vermächtnisses gilt, überrascht dies nicht. In den reaktionären, revisionistischen Narrativen Jugoslawiens wird Tito häufig und fälschlicherweise als „Diktator“ abgetan. In den Arbeiten zahlreicher zeitgenössischer Künstler*innen der jugoslawischen Diaspora hingegen wird er zu einem queeren Subjekt der Liebe, des Respekts und der Zuneigung. Diese Aneignung steht im Widerspruch zu jeglichem ethno-nationalistischen Revisionismus, der das sozialistische Vermächtnis als ein diktatorisches betrachtet und stattdessen das korrupte neoliberale System begrüßt.
Auch hier leistet Želimir Žilnik mit seinen stets aufsässigen kreativen Instinkten die übliche Pionierarbeit. 1994, zu einer Zeit, in der Serbien aktiv in die bewaffneten Konflikte in Bosnien und Kroatien involviert war, drehte Žilnik den Film Tito po drugi put medju Srbima (Tito zum zweiten Mal unter den Serben). Titos Tod 1980 war ein zentraler Wendepunkt und läutete den Aufstieg des Ethno-Nationalismus ein, der von Tito selbst, einem Verfechter des Pan-Jugoslawismus, vehement abgelehnt worden war. In diesem Dokudrama schickt Žilnik den beliebten serbischen Komiker Dragoljub Ljubičić, als Tito verkleidet (in voller Militäruniform und mit Orden geschmückt) durch die Straßen von Belgrad, und Žilniks Kamera dokumentiert, wie er sich mit den Passant*innen unterhält. Obwohl allen, denen dieser verkleidete „Tito“ begegnet, vollkommen klar ist, dass Tito bereits seit mehr als zehn Jahren tot ist, und die meisten von ihnen den beliebten Komiker in seiner Rolle erkennen, beginnen sie sofort ein Gespräch mit diesem „Tito“, als wäre er noch am Leben, und machen das Rollenspiel mit, ohne es zu hinterfragen. Mit viel Humor lassen sich die Belgrader*innen auf Gespräche mit Tito ein und nutzen die Gelegenheit, ihm mitzuteilen, wie sich die Dinge seit seinem Tod entwickelt haben. Einige behaupten, er sei an allem schuld, weil er gegangen sei, andere ergreifen die Gelegenheit, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermissen. In der Inszenierung dieser queeren Begegnungen (die queerend sind im Hinblick auf Zeit, Ort und Identität) ist der verkleidete Tito ein Objekt der Zuneigung, des Dialogs, eine längst überfällige Einladung, seine Meinung zu sagen, sich Luft zu machen und Anteil zu nehmen.
In der Performance Summit trat die Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin Bojana Videkanić 2012 als weiblicher Tito in den Straßen des kanadischen Calgary auf, an ihrer Seite die ägyptische Performancekünstlerin Nahed Mansour als ägyptischer Staatspräsident Nasser. Das Ganze wurde von den beiden verschmitzt als „Diktator-Drag“ bezeichnet. In ihren Uniformen (Videkanić trug eine Nachbildung der charakteristischen weißen Tito-Uniform mit Mütze) grüßten die beiden Frauen nichtsahnende Kanadier*innen, die nicht wussten, wie sie sich verhalten oder wie sie das, was die beiden stumm salutierenden Frauen in ihrem feierlichen Aufzug mit Kopfbedeckung da gerade taten, interpretieren sollten. Laut Videkanić6 konnten die meisten Passant*innen sie nicht einordnen, mit Ausnahme der Taxifahrer*innen, bei denen es sich in dieser Gegend Kanadas meist um afrikanische Einwander*innen handelt. Während weiße Kanadier*innen den Kontakt vermieden, fingen die migrantischen Taxifahrer*innen an zu hupen und begeistert in Richtung der weiblichen Tito- und Nasser-Gestalten zurückzusalutieren, ein Beleg dafür, dass nicht-westliche Subjekte aus blockfreien Staaten sich erkennen, solidarisch zeigen und um die gemeinsame Geschichte wissen. Die Performance sollte an das Vermächtnis der Blockfreien erinnern und endete damit, dass die beiden Staatsführer einen Schneeball zwischen ihren Mündern langsam schmelzen lassen, bis ihre Lippen sich zu einem eiskalten Kuss treffen.
Auch andere diasporisch-jugoslawische Performancekünstler*innen beschäftigen sich mit eigenen Tito-Versionen, darunter die queere Aktivistin und Künstlerin Zoe Gudović, die in Belgrad lebt und arbeitet. In ihrer Version der Performance wird Tito in einem Doppel-Drag von einer*einem nicht-binären Drag-Performer*in verkörpert. In der Darstellung von Tito durch die Multimediakünstlerin Selma Selman spielt das Thema Intersektionalität ebenfalls eine große Rolle. Selman ist eine queere Romakünstlerin mit einem ländlichen Arbeiterklassenhintergrund, die sich als jugoslawisch definiert, und nimmt in ihrer Arbeit Selma Selman Is Tito auf all diese Faktoren Bezug. Die internationale Bekanntheit, die sie als Künstlerin erlangt hat, nutzt Selman häufig dazu, ihrem verarmten bosnischen Heimatdorf etwas zurückzugeben, was ihr unter den Dorfbewohner*innen den Spitznamen „Tito“ einbrachte, da auch er dem gewöhnlichen Volk etwas zurückgegeben hat. Dies veranlasste Selman wiederum, ihren Transporter mit dem Schriftzug „Selma Selman ist TITO“ zu versehen und den Vergleich sowie das Vermächtnis des sozialistischen Staatsführers aufzugreifen. Die Künstlerin selbst sagt dazu: „Sie betrachten mich hier alle als Tito, weil ich sie glücklich mache.“7 Somit verkörpert eine queere Romakünstlerin Tito auf eine intersektionale Weise, die das Vermächtnis und das Verdienst des selbst radikal intersektionalen sozialistischen Projekts namens Jugoslawien vergegenwärtigt.
Der Schwarze, queere jugoslawisch-diasporische Künstler Christian Guerematchi thematisiert in seiner Videoperformance Black Tito Addressing the Parliament of Ghosts, Ghana (2023) eine ähnliche Intersektionalität. Als Kind einer jugoslawischen Mutter und eines aus der Zentralafrikanischen Republik stammenden Vaters, der zur Zeit der Blockfreien Staaten als Student nach Jugoslawien kam, verkörpert Guerematchi das Vermächtnis der Blockfreiheit, mit dem er sich in seinem Werk aktiv auseinandersetzt. In Black Tito macht sich Guerematchi als Tito noch schwärzer, indem er sein Gesicht mit schwarzem Stoff bedeckt, während er sich in Titos ikonischem weißen Anzug mit Mütze an das namensgebende Geisterparlament wendet (seine Zuhörer*innen sind unsichtbar). Er erinnert damit an Titos Rede und die Grundsätze der Blockfreiheit sowie an das Vermächtnis des jugoslawischen Sozialismus als einem gerechteren und egalitäreren System für die Menschen. Durch die Aneignung und Verkörperung des Schwarzen Tito macht Guerematchi zudem darauf aufmerksam, dass auch der Balkan aus der dominanten Perspektive Westeuropas eine nicht-ganz-weiße Positionalität innehat, wird seine Identität doch immer als eine rassifizierte Identität betrachtet.
In den Werken dieser und vieler anderer jugoslawisch-diasporischer Künstler*innen ist Jugoslawien queer und konstituiert sich neu; vor dem Hintergrund einer Landschaft der immer weiter fortschreitenden neoliberalen kapitalistischen Verwüstung, Prekarität und Enteignung ist sein Vermächtnis zwingender und lebendiger denn je. Heute Jugoslaw*in zu sein, bedeutet, auf queere Weise diasporisch zu sein und anstatt einer kategorischen Identität zu unterliegen einer nicht-festgelegten Subjektivität verpflichtet zu sein. Es ist dies eine mikropolitische Praxis auf alltäglicher und künstlerisch kreativer Ebene, auf der Möglichkeit und Wirklichkeit einer egalitäreren, sozialistischen Gesellschaft neu ausgehandelt werden.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Žilnik wurde 2021 eine von WHW (What, How & for Whom) kuratierte Retrospektive mit dem Titel Shadow Citizens in der Kunsthalle Wien gewidmet; https://kunsthallewien.at/ausstellung/zelimir-zilnik-shadow-citizens
[2] Miladinović spielt auch in einem früheren Film von Žilnik mit, Lijepe žene prolaze kroz grad (Schöne Frauen gehen durch die Stadt), 1986.
[3] J. Jack Halberstam, In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives. New York 2005.
[4] Dijana Jelača, Dislocated Screen Memory: Narrating Trauma in Post-Yugoslav Cinema. New York 2016.
[5] Vgl. Podiumsdiskussion anlässlich des Symposiums Queer and Feminist Yugoslav Diaspora, Art, Film, Activism an der Universität in Buffalo, 23.–27. April 2023.
[6] Persönlicher Schriftverkehr.
[7] Vgl. Zitat in Jasmina Tumba, I Am Jugoslovenka: Feminist Performance Politics During and After Yugoslav Socialism. Manchester 2022, S. 278.