Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Relationalität als Widerstand und Fürsorge, oder: Die Räume zwischen den Bergen

Luis Ortiz, Asodenfa (Adriana Gutierrez Ayala and Edit Gutierrez Ayala), Colectivo Direfentes (Maria Isabel Zuluaga)


Spricht man über Berge aus der Perspektive einer relationalen Ontologie, so geht es nicht nur um Geologie. Es geht um alle Wesen, die unter sozialen, spirituellen und ökologischen Gesichtspunkten in den Bergen existieren. Die Vorstellung relationaler Wesen in ihrer Vielfalt ist auch Teil der indigenen Ontologie von Abya Yala, wo sie ihren Ausdruck im Begriff des Körper-Gebiets finden.1 Dieser stammt aus indigenen Philosophien und wurde bislang in erster Linie von lokalen und indigen-feministischen Gruppen gebraucht, um die tiefe Verbindung zwischen Menschen und dem von ihnen bewohnten Land zu erfassen. Nach dieser Ontologie können Wesen nicht von dem Raum, den sie bewohnen, getrennt gedacht werden. Im Kontext von Abya Yala findet die relationale Ontologie sodann ihren erkenntnistheoretischen Ausdruck im Begriff des Fühlens-Denkens. Dieser Begriff umfasst eine ganze Einstellung zur Umwelt, der gemäß das Denken nicht ausschließlich logisch ist, sondern im Gegenteil auch Gefühlsanteile hat. Mit anderen Worten, es handelt sich um ein „Denken aus dem Herzen“2.
In der Geschichte Kolumbiens dienten Berge oft als Orte des Widerstands. Schon in der spanischen Kolonialzeit boten sie jenen indigenen Völkern Zuflucht, die aus Gebieten vertrieben wurden, die von den europäischen Kolonisatoren als geeigneter für den Ackerbau und andere Wirtschaftszweige betrachtet wurden. Im letzten Jahrhundert wurden die Berge auch zu Wohn- und Rückzugsorten für Gruppen, die anderswo keine Heimat fanden oder aufgrund von gewalttätigen Konflikten oder politischer Verfolgung fliehen mussten.
In Zeiten des globalen Kapitalismus und der Migrationsströme wurden Berge mehr und mehr von Körper-Gebieten zu Bestandteilen der weltweiten Wertschöpfungsketten in der kapitalistischen Produktion. Ihre Bodenschätze werden raubgebaut, an den Börsen wird mit ihnen Spekulationshandel getrieben, und am Ende finden sie sich in Handys und Computern wieder. Die Körper-Berge wandern, wenn ihre Bewohner*innen gezwungen sind, für Fabrikarbeit in städtische Zentren zu ziehen oder schlecht bezahlte Pflegearbeit für Körper-Gebiete im globalen Norden zu leisten.
Mein partizipatorisches Kunstprojekt Las Manos que Empujan el Viento (Die Hände, die den Wind schieben) zusammen mit einer Gruppe von madres comunitarias3 – dem Frauenkollektiv namens Asodenfa – in Bogotás Stadtteil Potosi möchte mit den Bergen fühlen und denken. Potosi wurde ab Ende der 1970er-Jahre von Vertriebenen an den Hängen des Berges Cerro Seco südlich von Bogotá errichtet. Der ursprüngliche Name des Berges in Muysc Cubun (der Chibcha-Sprache4) lautet Fina Gua und bedeutet „Windberg“. Als Körper-Gebiet ist der Fina Gua ein wandernder Berg. Zum einen lieferte er die Baumaterialien für die Errichtung der kolumbianischen Hauptstadt. Zum anderen ist er auch ein Gebiet, aus der die Arbeitskräfte kommen – Menschen aus der Arbeiterklasse, die die Metropole bis heute aufbauen und erhalten. Von Beginn an fanden im Viertel Potosi daher sozialistische Kämpfe um das Überleben und die Selbstverwaltung statt. Die in sozialen und ökologischen Kollektiven organisierten Bewohner*innen machten diese Berge zu ihrer Heimat und verteidigten sie erfolgreich gegen den Bergbau und den zügellosen Städtebau. Auf diese Weise wurden sie eins mit ihrem Berg: Die Gemeinschaft, die heute auf dem Fina Gua lebt, ist selbst ein Gemeinschaftsberg.
Meine eigene Reise begann an der Peripherie Kolumbiens, führte nach Bogotá und von dort in den globalen Norden. Es war dies eine Reise voller Brüche, die mich zu einem zerbrochenen Körper-Berg machte. Silvia Rivera Cusicanqui nennt solch zerbrochene Wesen, basierend auf der Kosmologie der Aymara, Wut Walanti. Dies bezeichnet etwas, das irreparabel zerbrochen ist und sich dennoch zu etwas Ganzem, in manchen Fällen sogar zu etwas Neuem fügt. Der fragmentierte Zustand hat einen eigenen Reiz und bisher unbekannten Wert.5
Vor dem Hintergrund des Begriffs Wut Walanti fühle-denke ich die Räume zwischen Bergen als mehrdeutige Metaphern. Einerseits stellen die Zwischenräume geologische Brüche zwischen den Bergen dar, die alle möglichen Brüche bei menschlichen und auch nicht-menschlichen Wesen symbolisieren, welche von kapitalistischen, patriarchalen und kolonialen Mächten verursacht werden. Es sind Räume, in denen die in ihnen lebenden Wesen und deren Stimmen negiert oder zum Schweigen gebracht werden. Andererseits bleiben sie trotz dieser Brüche und Verletzungen relationale Orte, das heißt Orte, an denen die Wolken die Berge berühren und die Vögel von einer Felswand zur nächsten fliegen. Zudem verstehe ich sie aber auch als Abgrund, über den unsere Körper- und Gemeinschaftsberge reisen – wie der Wind, der durch scheinbare Leere von einem Ort zum anderen weht.
Als Künstler mit Migrationshintergrund, der gleichzeitige mehrere Zwischenpositionen in sich verkörpert und nicht Teil dieser Gemeinschaftsberge ist, lebe ich in den Räumen zwischen den Bergen. Von dort aus stelle ich Beziehung zu den Gemeinschaftsbergen von Fina Gua her. Ich schlage vor, diese Zwischenräume als queere Räume zu betrachten, in denen sich alles, was als Nicht-Existenz geächtet wird, als nicht-binäre Form gegen etablierte Grenzen und Normen behaupten kann. Die queeren Räume zwischen den Bergen haben das Potenzial, sich hegemonialen Geschlechteridentitäten samt ihrer repressiven Machtstrukturen zu widersetzen, die machoide Gewalt – übrigens eine weitverbreitete Tragödie in Abya Yala – schüren.
Das gemeinsam mit dem Asodenfa-Kollektiv entwickelte künstlerisch-relationale Projekt diente als Treffpunkt, der die Chance bot, einander und anderen migrantischen Bergen zuzuhören. In deren Zwischenräumen entwickelte sich ein Prozess relationalen Schaffens trotz unserer Unterschiede, was Gender, Klasse und mögliche soziale Rollen anlangt. Wir übten uns im gemeinsamen Zuhören von Herzen, das wir während ausgedehnter Gruppengespräche und Bergwanderungen, auf denen wir die Umgebungsgeräusche aufnahmen, als relationale Methode anwandten. Als Ergebnis des konzentrierten Zuhörens entstand ein zweiteiliger Podcast: Las Manos que Empujan el Viento (Die Hände, die den Wind schieben). Der Titel stammt aus einem Lied, das wir gemeinsam für den Podcast schrieben. Es handelt von den Kämpfen der Frauen in Potosi während der Urbanisierung des Gebirges in den 1970er- und 1980er-Jahren. Es weckt Erinnerungen an die mühsame Handarbeit mit einfachsten Materialien beim Bau von windumtosten Häusern. Die Metapher der Hände bezieht sich auch auf die harte Arbeit der Frauen, die durch ihre Arbeit die ganze Gemeinschaft versorgen.
In unserem Podcast ging es um verschiedene Themen und Fragestellungen. Die Frauen sprachen über ihre Migrationserfahrungen und warum sie sich zur Umsiedlung in die Berge gezwungen sahen. Sie betonten, dass einer der Hauptgründe für die Umsiedlung der Mangel an Wohnraum in der Stadt war. Aufgrund ihres prekären Einkommens konnten sie sich die hohen Mieten in Bogotá schlicht nicht mehr leisten. Ein weiteres Thema des Podcasts war der Kampf der Frauen um Anerkennung als politische Akteurinnen in dem sehr machoiden Umfeld des Potosi-Viertels. In den Gesprächen ging es um Erinnerungen an ihren Widerstand, den wir auf diese Weise würdigen wollten bzw. der uns helfen sollte, uns auszumalen, was noch vor uns liegt.
Wir präsentierten den Podcast erstmals in den Straßen von Potosi, und zwar im Rahmen des Evaristo Bernate Castellanos Festivals, das dort seit 2001 stattfindet. Evaristo war radikaler Sozialist und Förderer der Selbstorganisation und des Widerstands in dem Stadtteil und spielte in den 1980er-Jahren eine wichtige Rolle bei der Gründung des Kollektivs Asodenfa. 1991 wurde er aufgrund seiner politischen Meinung und seiner Sozialarbeit ermordet.
Im Zuge des eingehenden Hörens von Stimmen systematisch marginalisierter Gemeinschaftsberge möchte ich im Folgenden die Stimmen von Adriana Gutierrez Ayala und Edit Gutierrez Ayala vom Kollektiv Asodenfa zu Wort kommen lassen. Sie haben gemeinsam mit Maria Isabel Zuluaga vom Colectivo Direfentes, einem weiteren Kollektiv in Potosi, ein Manifest über Gemeinschaftsarbeit im Zuge der Organisation des Festivals verfasst. Durch die Praxis des Fühlens-Denkens-Zuhörens-Lesens vertiefen und erweitern wir so nicht nur unsere wechselseitigen Beziehungen, sondern auch unsere Beziehungen zu anderen Körper- und Gemeinschaftsgebieten.

Manifest für Leben und Gedächtnis

Jahrzehntelang haben wir im Stadtteil Potosi in der Ciudad Bolivar (Bogotá, Kolumbien) einen Weg der nachhaltigen Analyse der sozialen Beziehungen beschritten. Jede Phase auf diesem Weg hatte eine eigene Dynamik und eigene Anführerinnen. Dieser unser Weg der Eintracht, Hoffnung und des Widerstands jedoch fußt auf der Summe aller Kämpfe unserer Vorgenerationen und aller Organisationen, die ihre Stimme gegen Unrecht erhoben haben, um etwas Neues aufzubauen, das ein besseres Leben möglich macht. Ebenso fußt er auf der Summe aller zukünftigen Kämpfe, die bis heute noch nicht zur vollen Blüte gelangt sind. Diese Kämpfe spielen sich auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Gefühlen ab. Die kulturellen Dialoge und Erinnerungen bündelten sich in Veranstaltungen wie dem Evaristo Bernate Castellanos Festival, das dem historischen Vermächtnis dieses Lehrers und Genossen gedenkt, der sein Leben gab, um das Leben anderer zu würdigen. Evaristo war ein Mensch, der Bildung in eine der abgelegensten Gegenden an der Peripherie Bogotás brachte, wo sie bis heute nachwirkt und das Leben vieler Menschen verbessert und verändert. Am 11. Mai 1991 wurde seine Stimme durch Gewehrkugeln brutal zum Schweigen gebracht. Seine Ideale hingegen leben in unserer Gemeinschaft als Echo fort. Von Beginn an verfolgt das Festival vier Grundprinzipien mit einem sozialen und gemeinschaftlichen Schwerpunkt und einem zukunftsorientierten Blick auf Potosi:
Das pädagogische Prinzip: Vom organisatorischen und pädagogischen Blickwinkel aus besteht unsere Strategie aus der Volksbildung, mit deren Hilfe neue Lebensmöglichkeiten sowie die Verbesserung der Wirklichkeit und des sozialen Gefüges in einem Gebiet umgesetzt werden sollen, das historisch marginalisiert und segregiert ist. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass wir alle Subjekte sind, die frei und verantwortlich entscheiden, wie wir unsere Geschichte schreiben und die Gesellschaft verändern können. Das kulturelle Prinzip: Unser Gebiet braucht mehr reflektierende, kritische und kreative Menschen. So betrachtet spielt die Kunst eine zentrale Rolle bei der Neudefinition unserer Wirklichkeit. Wir müssen gemeinsam Ideen und Projekte entwickeln, in unterschiedlichen Kontexten kommunizieren und dabei diverse Ausdrucksmittel nutzen, um verzwickte Situationen zu lösen, und zwar durch ein aktives und einfühlsames Zuhören, das es uns ermöglicht, zu verstehen, zu erkennen und uns trotz all unserer Unterschiede zu begegnen. Dazu müssen wir die kommunikative und verbindende Kraft der Kunst nutzen. Das Umweltprinzip: In Anerkennung der anderen Lebewesen, die uns in unserem Berg Cerro Seco Gesellschaft leisten, entwickelten wir ökologische Gedächtnisübungen. Wie die menschlichen sind auch die natürlichen Ökosysteme Opfer von und Ursache für die Ausbeutung durch den Bergbau, die Vernachlässigung durch den Staat, das mangelnde Bildungsinteresse und die Handlungen der meisten Bewohner*innen unseres Gebiets. In seiner langen Geschichte haben jedoch einige Gruppen Hoffnung und Gewissheit gefunden, dass sich ihre Beziehung zum Ökosystem im Sinne eines fürsorglicheren Ansatzes im Umgang und im Miteinander verändern werde. Forschungsprinzip: Wir übernahmen ein reichhaltiges und wertvolles Archiv an Dokumenten (Bücher, Zeitschriften, Dokumentarfilme, ein Fotoarchiv und eine Systematisierung der Biodiversität des Gebiets), das während des Festivals 2023 in mehreren Formaten ausgestellt wurde und unser basisdemokratisches, selbstorganisiertes Forschungsvorgehen bezeugt.
Niemand von uns ist ein vollendetes Wesen. Daher bleiben wir in unserem kontinuierlichen Gemeinschaftsaufbau für neue Möglichkeiten offen. So müssen bei jedem Versuch, sich zu versammeln, sich zu erinnern, zu lernen und das Festival neu zu gestalten, grundlegende Fragen gestellt werden. Wie haben sich die Kollektive, die Ökosysteme und ihre Art, sich selbst zu organisieren und zu erhalten, entwickelt? Wie kann man unsere Gegend durch das Festival neu gestalten? Wie kann man unsere Beziehung zur Natur und zum Gebiet neu begreifen? Wie organisieren wir Gemeinschaftsaktionen? Was ist überhaupt eine Gemeinschaft, wenn nicht die Summe jener Aktionen, die durch das gemeinsame Ansinnen motiviert sind, aus den Möglichkeiten jedes Wesens heraus offen zusammenzuarbeiten? Und schließlich: Wie können wir jene unserer Nachbar*innen einbeziehen, die nur aus dem Fenster schauen?

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Der Ausdruck Abya Yala wird von zahlreichen indigenen Gruppen auf dem amerikanischen Kontinent verwendet und bezeichnet das gesamte „amerikanische“ Gebiet: vgl. F. Del Pópolo, Los pueblos indígenas en América (Abya Yala): desafíos para la igualdad en la diversidad. Santiago de Chile 2017.
[2] Span. Sentipensante; vgl. El pensamiento de Orlando Fals Borda; https://sentipensante.red/ (15. Dezember 2019).
[3] Die madres comunitarias (Gemeinschaftsmütter) sind Frauenkollektive, die in den pseudourbanen und marginalisierten Gegenden Kolumbiens seit den 1970er-Jahren eine eigene Kinderbetreuung organisieren.
[4] Das Volk der Chibcha ist die Urbevölkerung Bogotás und angrenzender Regionen.
[5] Vgl. Silvia Rivera Cusicanqui, Un mundo ch’ixi es posible: Ensayos Desde la Presente Crisis. Buenos Aires 2018, S. 81.