Aachen. Als Fortführung der 2021 von Anselm Franke und Kerstin Stakemeier im Berliner Haus der Kulturen der Welt kuratierten Ausstellung Illiberal Arts rückt Illiberal Lives „künstlerische Formen eines illiberalen Lebens“ an die Stelle der „Fiktion von der Kunst als Ausdrucksraum bürgerlicher Freiheit“. In Zusammenarbeit mit der Direktorin Eva Birkenstock und dem Kurator Holger Otten realisiert, bietet Illiberal Lives Perspektiven auf soziale und politische Realitäten inmitten multipler Krisen der liberalen Demokratie. Von der theoretischen Setzung des externen Duos und der Expertise der internen Co-Kuration ausgehend, bietet die Schau einen Dialog zwischen zehn Künstler*innen, von denen einige bereits in Berlin vertreten waren, und 15 Positionen aus den Beständen der Stiftung Peter und Irene Ludwig – ein global agierendes Konstrukt aus Museen und Stiftungen, das zudem Leihgeber Tausender Objekte ist.
Während in Berlin eine Gitterinstallation von Anne Imhof als Matrix und Display diente, erscheint die Aachener Ausstellung als „mid-career exhibition“ der in Ostdeutschland aufgewachsenen Henrike Naumann. Die Halle des Ludwig Forums wird von bestehenden Arbeiten Naumanns bevölkert, wobei Einstürzende Reichsbauten (2021) und Ruinenwert (2019) das Herzstück bilden. Begleitet werden diese von Großplastiken aus der Sammlung: Wolfgang Mattheuers farbig gefasste Bronze Jahrhundertschritt (1984–85) scheint unter Magdalena Jetelovás nicht weniger monumentale Tropenholzskulptur Der Setzung anderer Seite (1987) durchzuschreiten. Die angedeutete Passage lenkt den Blick auf Naumanns altarähnliche Installation aus Wohnzimmermobiliar und Dekorationsobjekten. Während am Fuß des Altars „In stiller Trauer“ und „Der Deutschen Einheit“ auf Trauerbändern prangt, wird die Schrankwand von einem von Lew Kerbel angefertigten Bronzekopf von Peter Ludwig bekrönt. Flankiert wird das Bildnis des 1996 verstorbenen BRD-Unternehmers und Kunstmäzens – seines Zeichens Profiteur einer Exportgenehmigung in die DDR und Sammler von „West-“ wie „Ostkunst“ – von kleinen monochromen Vasen. Visuell bleiben die Verflechtungen von Ost und West, Kunst und Business sowie Politik und Interieur in Naumanns Arbeit unaufgelöst.
Auf der entgegensetzten Seite der Sheddachhalle ragt Jörg Immendorfs drei Meter hohe und ebenso breite Naht (Brandenburger Tor – Weltfrage) (1982–83) empor. Naumanns halbrund um Immendorfs Bronzetor arrangierte Installation Das Reich (2017) kombiniert Deutschtümelei und zum Abjekt gewordene postmoderne Wohnkultur. Die archaisch anmutende Konfiguration widmet sich dabei den Reichsbürger*innen, deren fundamentale Staatsfeindlichkeit als wohl deutlichste Ausprägung gegenwärtiger Illiberalismen gelten werden kann. Anstatt von einer Dichotomie liberaler Demokratie und illiberaler Autokratien zu sprechen, schält Illiberal Lives den „illiberalen Kern“ westlicher demokratischer Systeme heraus. Dabei lotet insbesondere Naumanns räumlich erfahrbare Achse nicht bloß die Institution aus, sondern verwehrt es uns als Besucher*innen, die (vermeintliche) Distanz zu Postfaschismus-Illiberalismus aufrechtzuerhalten – eine mitunter schmerzhafte Erfahrung.
Neun kleinere, um die Halle arrangierte Räume bieten abwechslungsreichere formal-ästhetische, mediale und inhaltliche Zugriffe, die unter anderem um Vergangenheitsnarrative und Zukunftsentwürfe, Ökologie sowie Körperpolitiken und Gewalterfahrungen kreisen. So etwa ein abgedunkelter Kinoraum, in dem Jordan Strafers Videoarbeit LOOPHOLE (2022) zu sehen ist. Als 25-minütiges Reenactment eines historischen Gerichtsfalls, in dem ein Mitglied der Familie Kennedy wegen Vergewaltigung angeklagt und freigesprochen wurde, setzt sich die Künstlerin mit der im Prozess angewandten Vernehmungstaktik auseinander. Diese zielt darauf ab, Zeuginnenaussagen in ihrer angeblichen Widersprüchlichkeit zu entlarven. Die im Film offengelegten Macht- und Geschlechterdynamiken setzen sich nahtlos im Rest des unbehaglichen und spärlich beleuchteten Raumes fort: Jeff Koons’ auf einem Sockel positionierte Large Vase of Flowers (1991) erscheint im Licht von Strafers Projektorstrahl zunehmend bedrohlicher. Ähnlich unbehaglich wird Domenico Gnolis Wrist Watch (1969), eine überdimensionale Malerei auf Leinwand, die einen grauen Anzugsärmel in Fischgratmuster zeigt. An dessen unterem Ende blitzen Krone, Lünette und Teile des Ziffernblatts einer Herrenarmbanduhr hervor, Insignien einer ungestörten patriarchalen Ordnung.
Unter Rückgriff auf Format und Gestaltung des Genres der Historienmalerei widmet sich der polnische Künstler Mikołaj Sobczak der Darstellung historischer Ereignisse und hebt in Anbetracht der rechtspopulistischen und LGBTQI+-feindlichen Regierung Polens Perspektiven hervor, die nationalistische Narrative verunsichern. Etwa die widerständige Figur des Upiórs, die verschiedene Geschlechteridentitäten annehmen kann und sowohl im gleichnamigen Video als auch in der großformatigen Arbeit Gutsherren (beide 2022) auftritt. Zwischen die beiden Werke positionierte Sobczak einen Siebdruck von Andy Warhol, dessen Vorfahren zu der in den 1940er-Jahren vertriebenen Volksgruppe der Lemken, die eine zentrale Rolle in Gutsherren spielen, gehörten. Ergänzt wird der Raum durch eine Ikonenwand von Thomas Lanigan-Schmidt und Fotografien von Graffiti des als Aachener Wandmalers bekannten Klaus Paier, dessen im Stadtraum platzierten Kommentare zu politischen und sozialen Themen der 1980er- und 1990er-Jahre eine Reihe von Widerständigkeiten bereithalten.
Seit dem Mauerfall aufkeimende faschistische Strömungen, die Zersetzung demokratischer Institutionen und die Neoliberalisierung weiter Teile des privaten und öffentlichen Lebens (die im ausführlichen Begleitheft interessanterweise keine Erwähnung findet) verlangen auch nach einer intensiveren Befragung der Rolle von Kunst und Kunstinstitutionen. Vor diesem Hintergrund scheint Illiberal Lives Sammlungsbestände nicht als bloß problematisch oder kommentarbedürftig zu verstehen, sondern begibt sich auf die Such nach neuen Deutungsangeboten, Ausstellungskonzepten und Vermittlungsstrategien. Durch die bewusste Gegenaneignung und das Brüchigmachen rechter Illiberalitätsfantasien verharrt die Ausstellung nicht in der Kritik von einem vermeintlich externen Standpunkt, vielmehr werden konkrete Formen des Lebens befragt.