Baden-Baden. Im Jahr 1989 fand in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden eine große Donald-Judd-Ausstellung mit zwölf neuen, in der Form identischen Objekten statt. Der US-Amerikaner Judd war damals auf dem Zenit seines Erfolgs, ein Kunstweltgott, den jeder Mensch in dieser Welt kannte. Alle lasen seine theoretischen Texte, denn Donald Judd (1928–94) war nicht nur einer der erfolgreichsten Künstler seiner Zeit, sondern auch ein einflussreicher Kritiker und Philosoph. So jedenfalls beschreibt es die namentlich nicht genannte Assistentin im Interview, das zwischen ihr, dem Kunsthalle-Leiter Jochen Poetter und Donald Judd am 7. August 1989, kurz vor Beginn seiner Ausstellung geführt wurde.
Das Audiofile mit dem Interview ist das zentrale Stück in der aktuellen Ausstellung von Marysia Lewandowska Recording_1989. Der Titel referiert auf den Akt der Aufnahme – das Interview kann in seiner gesamten Länge von knapp zwei Stunden angehört werden. Das Tape läuft im Loop im Inneren einer minimalistischen containerartigen Skulptur, in der sich auch ein begehbares Aufnahmestudio befindet. Diese Box ist Judds skulpturalen Aluminiumobjekten nachempfunden und wurde zusammen mit dem Sounddesigner Robert Jack und dem Architekten Aram Mooradian sowie dem Kunsthalle-Kurator Dominik Busch realisiert. Hier hören wir Judds sanfte Stimme, die holprigen, aber wissenden Fragen des Direktors Poetter sowie die etwas skeptischen und bohrenden Kommentare einer Mitarbeiterin von 1989, die gleichzeitig als Übersetzerin fungierte. Es ist das Dokument eines scheinbar abgehobenen Kunstdiskurses, in dem Judds Überzeugung, Kunst sei das Resultat eines autonomen künstlerischen Aktes und seine markante Selbstbezüglichkeit nach und nach zum Ausdruck kommen. Die Stimme des Künstlers in ihrer Authentizität erfahrbar zu machen, ist eine der Intentionen dieser Arbeit: „It’s securing the placement of the artist’s voice, in order to gain knowledge“, so Marysia Lewandowska im Zoom-Gespräch.
Die Stimme des Künstlers lässt einen spezifischen Moment in der Geschichte der Institution der Kunsthalle Baden-Baden aufleben: Es geht in dieser komplexen Installation, die das Resultat einer Archivrecherche beinhaltet, weniger um den Kunstdiskurs von 1989 als um die Zeitumstände und die Kontextualisierung eines „spezifischen“ Moments – um hier einen von Donald Judds bekanntesten Begriffen zu zitieren –, der über seine Zeit hinaus Bedeutung erlangte. Indem das originale Audiomaterial als Moment einer Zeugenschaft heute erfahrbar gemacht wird, setzt Lewandowska das Publikum in Bezug zu diesem Moment und rückt die Symboliken und das Archivwissen der Institution ins Zentrum ihrer Untersuchung. „Releasing image, sound, text into the public domain is a form of activism. It helps activating histories – in there lies my commitment of working with archives. I’m not interested in archives per se, but more in the fact that these are the places which hold our common heritage. If access is not granted, we will remain unaware of that common heritage.“
Es geht letztlich auch um die Situation der Öffentlichkeit einer öffentlichen Institution. Lewandowskas Kunstpraxis der letzten Jahre umfasst zahlreiche Ausstellungen im Umgang mit Archiven, unter anderem in so unterschiedlichen Institutionen wie dem Cosmic House in London – hier ging es um das Aufarbeiten der Rolle von Maggie Keswick Jencks, der Partnerin des postmodernen Architekten und Theoretikers Charles Jencks – oder aktuell in der Kestner Gesellschaft Hannover.
Die Installation Recording 1989 entstand auf Einladung der Kunsthalle Baden-Baden, und auch sie verbindet verschiedene Stränge von Historien: Im Zuge ihrer Neuausrichtung unter dem Leitungsteam Adnan Yildiz und Çağla Ilk wurde Marysia Lewandowska aufgrund ihrer Erfahrung als Künstlerin mit Fragen der Neuorientierung von Institutionen beauftragt, einen Prozess der inhaltlichen Transformation zu begleiten, der verstärkt auf die Produktion von Diskurs denn auf die Produktion von Ausstellungen angelegt war. Das war 2020, in einem sensiblen Moment während der Pandemie, der sich mit weiteren sensiblen Momenten in Lewandowskas eigener Geschichte kreuzte: So ist ein Vortrag Donald Judds aus dem Jahr 1986 in der Whitechapel Gallery in London Bestandteil ihres Archivs mit eigenen Audioaufnahmen, deren Hintergrund die Orientierung in einer neuen Welt der Ausstellungspraxis und -biografie ist. Genauso aber bildet das Jahr 1989 wiederum durch den Zusammenbruch einer alten Weltordnung eine Situation des Umbruchs auch für Lewandowska, die in Polen geboren wurde, doch seit 1982 in London lebt, ab: „During the Institutional Healing I felt, that in order to heal, you need to understand your own history.“
Die Installation, die den Minimalismus Judds mit neuen Praktiken des Crossreadings und der feministischen Gegenlektüre vermischt, wird im Laufe der Ausstellungsdauer auch zum Live-Recording-Studio, wo sechs neue Interviews im Beisein eines Publikums, das außerhalb der Box Platz nimmt, aufgenommen werden. Der Intimität im Inneren wird eine „Extimität“– (in Anlehnung an den Begriff „extimacy“ von Elizabeth Povinelli) – gegenübergestellt, bei der das gemeinsame Hören einer Live-Audiosession zu einer neuen Facette von Öffentlichkeit beiträgt. Und so entsteht aus einem behutsam aus dem Archiv gehobenen Fundstück durch Praktiken des Deep Listening, durch Aktualisierung und durch Feminisierung eine neue sensible, spezifische historische Situation.