Paris. Zwischen Guillaume Desanges, Direktor des Palais de Tokyo, und dem Künstler*innenduo mountaincutters, gab es bereits mehrere Stationen der Zusammenarbeit, die erste davon am 61st Salon de Montrouge (2016). Desanges legt in seiner kuratorischen Praxis und Programmierung einen Schwerpunkt auf Formen, die sich durch sich selbst entfalten und sprechen, mehr denn auf solche, die Beziehungsgefüge evozieren oder sich in Diskurse einschreiben.1 Diese haben die Kapazität, statt Geschichte zu reproduzieren, sie als offenes Gefüge zu denken.
In mountaincutters’ Installationen kehren einzelne Objekte aus ihrem Œvre wieder, werden neu kombiniert, neue Elemente kommen hinzu. Diese Offenheit ihres Werkes für neue Konstellationen, Erweiterungen und Veränderungen erlaubt es ihnen, eine Erzählung zu erschaffen, die nicht final, klar begrenzt oder linear ist. So tragen sie den multiplen Faktoren von Geschichte und deren Verlauf Rechnung. Durch einen Blick auf die Anfänge der künstlerischen Arbeit des Duos, etwa des 61st Salon de Montrouge (2016) und ihrer Entwicklung seitdem, erschließen sich ihre Themen und Arbeitsweise. Es waren dort dem Boden des Ausstellungsraums entrissene Betonstücke im rechten Winkel aufgestellt, die dem gleichmäßigen Horizont einer Stadtlandschaft ähnelten. Als wörtlicher Kommentar auf den Gewaltakt der Extraktion von Ressourcen, der hinter dem Aufbau einer Stadt liegt, bis hin zum Raum, in dem man steht, betrifft diese Geste am in die Installation einbezogenen Raum grundlegende Fragen menschlichen Eingreifens in die Umgebung. Darin liegt auch die politische Dimension des Werkes von mountaincutters. An einer anderen Stelle säumten sie den aufgerissenen Boden mit Holzkisten, Arbeitstischen, Ketten und Seilen und zeichneten damit ein Bild von Minen, Steinbrüchen, alten Werkstätten. Durch die Installation Aorta (2015) verlief in Schwüngen ein Schlauch und verlieh einer solchen Umgebung den Anstrich eines organischen Wesens oder eines Organismus.
Die destruktiven Wege der Extraktion und Produktion, die Dinge, Gebäude, Materialien gehen, einerseits, und die Notwendigkeit des Eingreifens und Formens der Umwelt, um Überleben zu erleichtern oder Körper zu schützen, andererseits, steht im Fokus von mountaincutters’ Arbeit. Für sie kann ein Organismus nicht ungeachtet der Umgebung betrachtet werden, in die er eingeschrieben ist. Ein Schlüsselwerk ihrer Ausstellung im Palais de Tokyo ist das Video über den Dreibeinfisch, ein Tiefseefisch, der eine Erweiterung seiner Flosse als Werkzeug benutzt, um auf dem Meeresgrund landen zu können.
Elemente von Morphologies souterraines, die die materiellen Grundlagen und Bedingungen des Gebäudes dieser Ausstellung hervorheben und in den Vordergrund holen, sind Kupferrohre und die Arbeit outils de lutte et de travail (2023), eine Bronzeskulptur, sowie Tische und Raumteiler auf Glasrädern (objets incomplets). Sie docken an die Architektur an oder hängen von ihren Versatzteilen herunter. Das sind jene Teile der Ausstellung, die die Thematik der Extraktion von Ressourcen aus dem Boden, den Untergrund, das „souterrain“ betreffen. Darüber hinaus befinden sich für diese Ausstellungssaison die Ausstellungen nicht im ersten Stock des Gebäudes, wie üblich, da diese Räume während des Sommers zu heiß sind, sondern im unteren Geschoss. Die Intention hinter dieser Entscheidung Guillaume Desanges’, die Ausstellungsräume zu verlegen, ist, auf die klimatischen Herausforderungen und die Klimakrise aufmerksam zu machen. mountaincutters haben als Reaktion darauf Thermometer in ihrer Ausstellung verteilt, die von der Omnipräsenz von Temperatur als Umweltfaktor, dem unsere Körper unterliegen, sprechen.
Den Hauptteil der Ausstellung bildet daneben eine Installation aus älteren und neuen Objekten von mountaincutters. Die einzelnen Elemente der Installation wirken wie jeweils kleine Bedeutungseinheiten, auf die sich der Begriff „morphologies“ des Ausstellungstitels bezieht. Aus Materialien wie Kapok, Glas, Kupfer, Keramik, Papier, Stoff und in einer horizontalen Komposition am Boden erschaffen sie eine Umgebung der Spuren menschlicher Aktivität. Sie können aber zugleich auch die Teile eines am Boden ruhenden Körpers sein und „morphologies“ vom Aufbau und Energiefluss eines Organismus sprechen. Auch in früheren Ausstellungen waren etwa ein Hocker auf Glasstelzen, Agar-Agar-Tröge, Objekte aus Glas und Kupfer, die einem undefinierten industriellen Kontext entnommen sein könnten, oder in Glas nachgearbeitete Venusfiguren zu sehen. Sie nehmen eine Position zwischen Artefakten und fiktiven Objekten ein und vermitteln so eine Zeitlichkeit, die sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit gerichtet sein kann. Der durch die Anordnung proportionierte Raum und die Materialien wirken auf die Sinne, führen den Blick von einer Formeinheit zur nächsten und verorten uns in dieser Umgebung. Da die einzelnen Bausteine kombinierbar, veränderbar, erweiterbar und unabgeschlossen sind, können sie eine nicht vollständig bekannte, nicht lineare oder beendete Geschichte (unserer Lebenswelt) zeichnen.
Frühere Installationen von mountaincutters waren gekennzeichnet von einer Abwesenheit von Subjekten – sie waren nur in hinterlassenen Spuren, in Gesten, in ihren Artefakten oder in Indizien ihres Eingriffs in ihre Umgebung präsent. Dieses Mal vereint die horizontale Installation sowohl einen Körper als auch dessen Umgebung. Auch kamen Elemente hinzu, die unmittelbarer die Realität von Körpern thematisieren, Prothesen und eine Rollstuhlrampe aus Messing, auf der man den Ausstellungsraum durchqueren muss. Das Versagen von Körpern eröffnet eine politische Dimension, die nicht nur das Thema der Inklusion beinhaltet. Denn manchmal versagen Körper, weil Druck auf ihnen liegt, der ähnlich und komplex ist, wie jener, der auf der Umwelt lastet und von dem aktuelle Ökologiethematiken handeln. Dann sind sie auch ein Faktor im offenen, veränderbaren, unabgeschlossenen Verlauf von Geschichte.
[1] Septembre Tiberghien, Du Chant des Ruines, in: L’art meme, Nr. 77, 2019, S. 20; http://www.lartmeme.cfwb.be/no077/documents/AM77.pdf.