Heft 3/2023 - Artscribe


Tanja Widmann – Lying Daughters

24. Juni 2023 bis 4. August 2023
Felix Gaudlitz / Wien

Text: Anette Freudenberger


Wien. Lying Daughters – worauf genau dieser Titel zielt, kann nur spekuliert werden, aber er verweist auf ein sperriges Verwandtschaftsverhältnis und führt direkt in die Ausstellung ein, die mit solchen Ambivalenzen spielt. Zwischen Liegen und Lügen liegt ein Kippmoment, ein Sowohl-als-auch, kein Richtig-oder-falsch. Lässt man sich auf die Narration ein, stößt man auf verschiedene Figuren – Johannes Porsch als Produzent, Richard Prince als Vater der Appropriation Art, Felix Guattari als Quelle. Aber wie sind diese Verhältnisse zu adressieren? Hier zeigt sich bereits das Verfahren der Ausstellung: Argumentationslinien werden hergestellt, um sie auf ihre Wahrscheinlichkeit in verschiedenen Zusammenhängen hin zu überprüfen und augenblicklich fallen zu lassen.
Mit Simple Lines (Daddy), 20.–25.12.1961 (2023) taucht tatsächlich ein Vater auf. Tanja Widmanns Vater war Fliesenleger und aus seiner Lehrzeit stammt eine Skizze, die in bearbeiteter Form in der Ausstellung zu sehen ist. Unter den Plan zur Verlegung von Fliesen schreibt er „falsch“, da im Sinne seiner Ausbildung die Anordnung fehlerhaft ist. Es bleibt ein Rest – das Verhältnis von Fliese und Raum geht nicht auf. Das Wort „falsch“ ist noch einmal daruntergesetzt, was die Frage aufwirft, was falsch am Falschen wäre? Die ganze Ausstellung setzt auf dieses Stolpern über Inkongruenzen und knüpft präzise an den Störfeldern an, den Resten, die sich nicht im Eindeutigen unterbringen lassen.
Auf der Längswand des Ausstellungsraums ist ein Raster angedeutet, der sich nicht ohne Verschnitt erweitern lässt. Eine Linie in der oberen linken Ecke fügt sich nicht in das vorgegebene Schema und unterbricht so die Zwangsläufigkeit der Struktur. Eine durchgezogene Linie und das leicht ablösbare Abdeckband „Precision Sensitive Rosa“ erden die poröse Form so weit als möglich. Die Zeichnung könnte als Matrix der Ausstellung betrachtet werden, aber genauso auch ganz einfach nur ein Plan sein, der versucht, sich Klarheit über die Flächenaufteilung der beiden Bildobjekte auf den Stirnseiten zu verschaffen. Sie bestehen aus handelsüblichen Spiegelfliesen auf Spanplatte und transparentem Klebeband. Sol Lewitt sozusagen versus Fliesenleger, ohne bei diesem Transfer Funktionen und Gebrauchswerte der verschiedenen Kontexte gegeneinander auszuspielen. Sie werden vielmehr aufeinander angewendet, um daraus einen größeren Spielraum zu gewinnen. Betrachtet man die Zeichnung auf der Wand als Matrix, hat man hier ein generatives Motiv, das immer neue thematische Linien aufsteigen lässt, die sich manchmal überschneiden, manchmal auseinanderdriften, in jedem Fall dezentral angeordnet sind.
Im Büro im Geschäftsbereich hängen über den drei Apple-Computern auf dem Schreibtisch drei gleiche Arbeiten, großformatige Rahmen mit Fotokopien von Richard Prince’ Publikation Girlfriends von 1993, in der er Fotos aus Biker-Magazinen und anonymen privaten Sammlungen reproduziert hat. Die dreifache Wiederholung bedeutet ein nochmaliges Verschieben in der Wertigkeit der Form, der Klassifizierung der Bilder und ihrer Aneignung. Auf dieselbe Wand hatte Tanja Widmann in der letzten Ausstellung ein anonymes Graffiti übertragen „KLitoRis IHR FICKER“, das hier als Kommentar aus dem Off in Erinnerung gebracht wird. Es ist eine zusätzliche Stimme, doch keine Fixierung auf eine bereinigte „richtige“ Version der Girlfriends.
Alles wird in der Verlaufsform der Ausstellung in Bewegung versetzt, auch die Titel. Obwohl spezifisch auf die jeweiligen Arbeiten bezogen, lösen sie sich immer wieder aus ihrer referenziellen Abhängigkeit, als würden Bild- und Tonspur auseinanderlaufen. Die Produktion lässt je nach Betrachtungsweise verschiedene Aspekte der Präsentation hervortreten, wobei sich Tanja Widmanns und Johannes Porschs jeweilige Anteile nicht mehr fein säuberlich auseinanderdividieren lassen. Auch der luzide Text von Inka Meissner zur Ausstellung und die Wahrnehmung der Betrachter*innen sind Stellen der Produktion, die das selbstbezügliche System von Lying Daughters in verschiedene Richtungen öffnen.
Ein simpler Trick holt die Betrachter*innen ganz konkret mit ins Spiel. In den Spiegeln zeigt sich ihr Beckenbereich, also der Part des Körpers, der am häufigsten Auf- oder Abwertung erfährt. Das Format beschneidet nicht nur ihre Spiegelungen, sondern montiert sie auch zusammen vor den Hintergrund des nun mehrfach gebrochenen Grids. Über diese Kontaktzone ist ein Klebeband gezogen, sichtbar vor allem wegen der unvermeidlichen Lufteinschlüsse, schmutzige Produktionsfehler, die als Sprechblasen weitere Verknüpfungen aktivieren. Beispielsweise zu einer Animation im Eingangsbereich der Galerie, die sexuellen Austausch unter anderem zwischen zwei Farbtuben zeigt, die sich in eine gemeinsame Sprechblase entleeren. Der Titel enthält eine Literaturangabe: Simple Lines (Flicker), Samples from: Copi, La puissance ou la jouissance. Félix Guattari (Ed.), Recherche, 3 milliards des perverts. Grande encyclopédie des homosexualités, March 1973 (2023). Dass der Mitherausgeber Guy Hocquenghem ein Vordenker der Queer-Theorie war, spielt in der Konzeption der Ausstellung ebenfalls eine Rolle.
Es würde den „F/lying Daughters“ jedoch widersprechen, die Rezeption in eine vorgegebene Richtung zu lenken und damit das assoziative Gefüge auszubremsen, das sich dreht und wendet und in alle Richtungen expandiert. Die Ausstellung ist ein autopoetisches Modell, das sich ständig anhand der eigenen Fragmente und ihrer wechselseitigen Einschreibungen referiert, dies jedoch – und das ist das Entscheidende – in einem offenen Raum, der nicht abschließbar ist.