Berlin/Bonn. Robert Smithson prägte 1967 die Formulierung der „umgekehrten Ruine“, um eine vorstädtische Baustelle zu beschreiben. Er wies darauf hin, wie solche Gebäude zu Ruinen werden, noch bevor sie gebaut sind. Eine solche Bewegung von Aufbau und Zerstörung, von Wachstum und Zersetzung, ist TTolia Astakhishvili paradoxerweise immersiven Installationen eigen. Sie enthüllen und verbergen gleichzeitig ihr eigenes Planen und Machen und erscheinen als ein Interface zwischen inneren und äußeren Welten, das wie ein Möbiusband funktioniert: Es entschärft einen jeden solchen Gegensatz.
Die große Halle des Bonner Kunstvereins wurde zur Hälfte verdunkelt, die sieben Meter hohe Decke abgesenkt und die Säulen des Gebäudes vervielfacht, so dass eine unterirdische Kolonnade entstand, eine Mischung aus Innenhof und Parkplatz (Entire, 2023). Ein leiser Sound aus einer der Säulen, mystifizierte – wie ein eingeschlossener Geist – den Raum. Versperrte Öffnungen legten Aussparungen und Enklaven in der fabrizierten Umgebung frei – teils eine Kulisse, teils ein verlassenes Haus: So konnte man einen Blick auf den neonbeleuchteten Raum werfen, der zwischen den beiden Decken eingeschlossen war; durch einen quadratischen Schlitz in einer Sprossenwand sah man zwei in warmen Farben gehaltene Körperabdruckbilder von Ser Serpas (Untitled, 2023) in einem White-Cube-Galerieraum – ein großer Teil der Kunstvereinshalle, der von allen Seiten verschlossen war. Eine versteckte Nische, die in Zusammenarbeit mit dem Vater der Künstlerin, Zurab Astakhishvili entstanden war (I can’t imagine how can I die if I am so alive, 1986–), war vom Boden bis zur Decke mit Hunderten von Collagen aus Zeitschriftenausschnitten und Gesichtern aus dem Freund*innenkreis und Familienmitgliedern bedeckt. In einer seltsam heimischen Atmosphäre lagen auf dem Boden Kartonmodelle von architektonischen Strukturen und Möbeln aus jeder Wohnung verstreut, die die Familie der Künstlerin in Tiflis bewohnte: Stühle, Schreibtische, Schränke, Badewannen, Fenster oder Türen. Wie können wir uns unseren eigenen Tod vorstellen? Kann er uns etwas über uns selbst sagen? Über unsere Beziehungen? Das Modellieren des Vaters extrahiert eine Essenz aus dem Werk der Tochter, in dem der Maßstab wandelbar ist. Miniaturen und lebensgroße Repliken und Modelle füllen beide Ausstellungen, manchmal als reale Architektur, manchmal wie ein Akt träumerischer Verdauung erscheinend: ein Haus in einem Haus in einem Haus.
The First Finger wurde in zwei Kapiteln im Bonner Kunstverein und im Berliner Haus am Waldsee realisiert und markiert einen Höhepunkt der außergewöhnlichen Tour de Force von Astakhishvili mit einer Reihe von Einzelpräsentationen in diesem Jahr, darunter I think it’s Closed im vergangenen Frühjahr im Kunstverein Bielefeld. Astakhishvili, die in Tiflis und in Berlin (seit 2001) lebt, hat mit ihrer Arbeit, die eine ganze Reihe von Künstlerkolleg*innen einbezieht, erst jetzt viel Aufmerksamkeit und Resonanz gefunden.
Der Titel spielt auf den gewaltsamen Prozess an, in dem ein bedrohter Organismus die Organe, die er als entbehrlich ansieht, selbst amputiert, um zu überleben. Und doch ist die zweiteilige Ausstellung das Ergebnis einer Ordnung, in der keine systematische Hierarchie erkennbar ist, in der es keine harten Kanten gibt, die bestimmte Kunstwerke oder einzelne Autor*innen abgrenzen – ein erweitertes Netzwerk von Freund*innen, Familie und Künstler*innen, in dem auch diese Kategorien fließend sind. Die Räume der Ausstellungen entfalten sich eher in einer dezentralisierten Fülle, organisch und architektonisch, durcheinander und entschieden skulptural („I listen to what the rooms tell me“, sagt Astakhishvili). Der Widerstand gegen eine klare Hierarchie stellt letztlich die Konventionen einer Ausstellung infrage – so sehr, dass es unnütz erscheint, nach den Titeln der Kunstwerke zu suchen,– und fördert (oder besser gesagt, befreit) die Paradigmen der künstlerischen Praxis und des „kollaborativen Ansatzes“.
Die gemeinsame Arbeit mit dem Vater, einem Alpinisten und pensionierten Arzt, ist eines von mehreren Wurmlöchern, die Bonn mit Berlin verbinden. Im oberen Geschoss der Zehlendorfer Villa steht ein Modell eines unfertigen Gebäudes auf der Fensterbank (Untitled, 2023). Das Haus wurde jahrzehntelang in der Tifliser Nachbarschaft der Familie im Bau gehalten, bis es unvollendet abgerissen wurde. Sonnenstrahlen werfen Licht auf sein sich wiederholendes geometrisches Pappgitter, während alle vertikalen Linien im Raum – die des Gitters, des Fensters, des Heizkörpers – mit einem massiven Tropfen zusammenfallen, der von einer mit Kaffee und Wasserfarbe gemalten Beule ausgeht, die sich wie ein Klumpen aus Schimmel in einer Ecke der Decke ausbreitet. Diese tropfende Ecke scheint zum Organismus des Hauses zu gehören, das blutet und leckt, verrottet, Risse bekommt und sich gegen seine vorübergehenden Bewohner*innen zu wenden droht.
Diese Zustände zwischen Zerstörung und Aufbau stehen im Mittelpunkt von Astakhishvilis Unterfangen, das die Eingeweide, Adern und das Skelett von Gebäuden sichtbar macht (in Bonn wurde der glatte Linoleumboden der Galerie ausgehoben und die darunter verlaufenden rostigen Rohre zwischen sandiger Erde freigelegt). Astakhishvili aktiviert die Architektur gegen sich selbst, indem sie ihre Mechanismen des Verbergens, des Besetzens eines Territoriums, aber auch des Schutzes als Verlängerung des Körpers aufdeckt: ein Schutz vor Instabilität oder einem Zusammenbruch von außen.
Dies zeigte sich in der akkuraten, absurden und bewegenden Konstruktion im Obergeschoss des Hauses am Waldsee, wo ein geschlossenes Rechteck, so groß wie ein Raum, aus verzinkten Trapezblech und Stahlzaunpanelen, wie sie für die Umzäunung von Baustellen verwendet werden, in die häusliche Umgebung der Villa hinein gebaut wurde, um deren harmonische Dimensionen zu stören und die Bewegung der Besucher*innen in unvorhergesehene Richtungen und Geschwindigkeiten zu lenken. Aus dem Inneren des Rechtecks aus Blech ertönt ein mehrdeutiger Klang, der mit den fragmentarischen Figuren zweier benachbarter feinfühliger Zeichnungen von Antonin Artaud (Untitled, ca. 1947) und Schwarz-Weiß-Fotografien von Alvin Baltrop (The Piers, 1975–86) zusammenfällt, die (buchstäblich) von den Zusatzkonstruktionen im Gebäude eingerahmt werden.
Eine Patinaschicht – Schuh- und Handabdrücke, Schneespray – bedeckte fast alle Sperrholz- und Gipsersatzwände und -türen in beiden Ausstellungen. Der daraus resultierende Effekt ist ein doppelter: Die Konstruktion erscheint als trompe-l’oeil der Architektur, und doch befinden wir uns in einer totalen gemalten Fälschung, in einem Bild.
Übersetzt von Yannick Fritz