Kyjiw. Das Pinchuk Art Center in Kyjiw würdigt mehr als 15 Schaffensjahre der ukrainischen Bildhauerin Zhanna Kadyrova mit einer großen Retrospektive unter dem Titel Flying Trajectories. Die Ausstellung wurde Ende Juni eröffnet und umfasst große Teile des Werkes der Künstlerin von ihren frühen Skulpturen und Installationen bis zu neuesten Arbeiten. Viele Ausstellungsstücke entstanden lange vor der Großinvasion Russlands in die Ukraine, korrespondieren aber im Rückblick deutlich mit der militärischen Realität. Fast alle Arbeiten, die nach dem 24. Februar 2022 entstanden, sind überhaupt direkte Reaktionen auf Russlands Angriffskrieg.
Begrüßt wird das Publikum von einem Werk aus dem Jahr 2009, das den Titel Orbita trägt und in dem für Kadyrova typischen Stil aus Keramikfliesen gefertigt ist. Es stellt einen Hochhaussolitär in Sowjetbauart dar, der sich unter blauem Himmel über ein gelbes Feld erhebt. Orbita ist der Name eines halb verlassenen Dorfs in Region Tscherkassy, das aufgrund des wirtschaftlichen Chaos nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Ungewissen lebt. Postsowjetischer Verfall und Niedergang infolge ökonomischer und politischer Krisen oder die vielen neuen Möglichkeiten in einem Land, das gerade seine Unabhängigkeit erlangt hat – beide Lesarten sind Facetten derselben Geschichte.
Eine weitere Arbeit von vor dem Krieg ist ein 1:1-Nachbau des Monument to a New Monument, das Kadyrova 2007 bis 2009 in der Kleinstadt Scharhorod in der Region Winnyzja schuf. Damals sah es so aus, als würde die Künstlerin damit auf die damals neue, öffentlich geführte Diskussion über die Politik des Erinnerns reagieren, die in den Folgejahren zu ganzen Wellen der Dekommunisierung führte, im Zuge derer nicht selten mit undemokratischen Methoden Kunst aus der Sowjetzeit entfernt wurde. Diese Methoden wurden mit der russischen Invasion noch verschärft. Seit Beginn lauert im Hintergrund des Monuments Kadyrovas indes die unbeantwortete Frage: Wen stellt dieses mysteriöse Monument dar, dessen Gestalt ist da durch dicken Stoff verhüllt wird? Besonders insofern, als in der letzten von so vielen historischen Ereignissen geprägten Zeit die Held*innen und Gegenheld*innen mehr als nur einmal ihre Plätze tauschten.
Das nächste Werk auf dem Parcours ist eine Installation aus 2014, die für die Insel Byrjutschyj im Asowschen Meer nahe der Küste der Krim entstand, beide nunmehr unter russischer Besatzung. Bei diesem Projekt reagierte die Künstlerin auf die Annexion der Krim vor neun Jahren, indem sie auf dem der Krim zugewandten Sandstrand der Insel einen Metallzaun errichtete. Hier bekommt die Installation nun eine neue Form. Mit Plastikmuscheln fingiert Kadyrova echte Meerestiere und damit jenen Sandstrand, der mittlerweile – wie vor neun Jahren schon die Krim – durch den Krieg unerreichbar geworden ist.
Maps und The Shots bestehen aus Keramikscherben und zeichnen die Kartografie des militärischen Konflikts nach, die in Form von Armeeberichten alle elektronischen Medien durchziehen und mittlerweile in die Alltagsgespräche aller Ukrainer*innen eingedrungen sind, die heute alle Schattierungen von Worten wie „Artilleriebeschuss“, „Angriff“, „Schlag“ und „Treffer“ kennen.
In ihrer Serie Harmless War wiederum kontrastiert die Künstlerin die Sauberkeit und Symmetrie geometrischer Formen im Ausstellungsraum mit der ohrenbetäubenden Brutalität des Krieges. An der Oberfläche handelt es sich nämlich um abstrakt geformte Skulpturen – weiße Würfel, Kegel und Pyramiden. Doch wurden die Metallteile, aus denen sie bestehen, dort aufgesammelt, wo im Winter 2022 und Frühling 2023 die Schlachten zwischen ukrainischen und russischen Truppen tobten. So wurden ihre blanken und frisch lackierten Oberflächen durch Risse und Einschlaglöcher von Detonationen und Schrapnellen perforiert.
Auch die Arbeiten der Serie Data Extraction tragen Spuren militärischer Gewalt. Es handelt sich um extrahierte rechteckige Straßenasphaltplatten, auf denen sich die Einschläge von Minen und Granaten abzeichnen. Ihre Einschlagslöcher tragen einen sternförmigen Saum, der von der unmenschlichen Kraft zeugt, mit der sie in den schwarzen Asphalt getrieben wurden.
Im letzten Teil der Retrospektive ist das Projekt Palianytsia zu sehen, benannt nach dem traditionellen runden ukrainischen Weißbrötchen. Paljanyzja ist heute aber auch weitverbreiteter Kampfbegriff, da man in den ersten Tagen der Invasion an der Aussprache des Wortes zwischen Freund und Feind unterscheiden konnte. Die Künstlerin betont dabei den persönlichen Aspekt, unter dem dieses Werk entstand. Wie viele Ukrainer*innen musste auch Kadyrova vor den Kampfhandlungen fliehen. Sie fand Zuflucht in einem Bergdorf in den Karpaten, wo sie sich in engem Kontakt mit der Dorfgemeinschaft von dem betäubenden Schock der ersten Tage des Krieges erholen konnte. Angeregt wurde Palianytsia von Pflastersteinen, und zwar solchen, die ein Fluss aus seinem Lauf löste. Kadyrova geht oft nach der Methode vor, ein reales Objekt oder einen realen Sachverhalt aus dem alltäglichen Kontext zu lösen und in eine Ausstellung zu übertragen. Das hat nicht nur die Betonung der materiellen Eigenart oder einer abstrakten Konfiguration zur Folge, sondern auch die Schaffung einer neuen und oft paradoxen Realität.
Zum Beispiel stellte die Künstlerin einen echten Lüster aus dem durch Artilleriebeschuss beschädigten Kulturhaus in Beryslaw, einer Stadt in der Südukraine, die beinahe bis Ende des Jahres 2022 besetzt war, ins Zentrum der Arbeit House of Culture. Dieses eindrucksvolle Unikat aus Glas und Bronze, das nun mit Spot beleuchtet feierlich glitzert, blieb wie durch ein Wunder intakt, sodass es die Künstlerin temporär für die Ausstellung leihen konnte. Ob das Kulturhaus je restauriert werden wird und seinen Betrieb wieder aufnehmen kann, bleibt jedoch offen, da dies vom Ausgang des Krieges abhängt. Sicher ist nur, dass Hunderte von Museen und Kulturinstitutionen in der Ukraine nicht gerettet werden konnten, sondern von der Russischen Föderation geplündert und zerstört wurden.
Diese unleugbaren Tatsachen bestimmen auch die Position der Künstlerin, die sich seit jeher an vielen Orten in der Ukraine für das Leben lokaler Gemeinschaften engagierte. Seit Kriegsbeginn arbeitet Kadyrova aktiv in der Freiwilligenbewegung mit, die sich zu einer wichtigen Säule des Widerstands gegen die Aggression von außen entwickelte. So spendet sie einen Teil der Erlöse ihrer Kunstwerke zur Unterstützung von Opfern des russischen Angriffskriegs.
Übersetzt von Thomas Raab