Heft 3/2023 - Netzteil


Virtuelle Performance

Zum Multimedia-Event Planetary Skins von Sylvia Eckermann und Gerald Nestler

Lisa Moravec


Oft ertappe ich mich dabei, dass, wenn ich die Wahl habe, entweder auf einen beleuchteten bunten Bildschirm zu schauen, der mich durch Textinformationen bzw. animierte Bilder zusätzlich stimuliert, oder mich mit meiner eigenen Körperlichkeit bzw. meinem zeitlich und räumlich vorgegebenen Umfeld auseinanderzusetzen, ich mich von medial vermittelten Bildern äußerst angezogen fühle. In dem Multimedia-Performanceevent Planetary Skins des Künstlerduos Sylvia Eckermann und Gerald Nestler, das in Kollaboration mit Maximilian Thoman in der Galerie Elisabeth & Klaus Thoman in Innsbruck als dritter Teil ihrer Future of Demonstration-Serie1 als immersive Abendveranstaltung realisiert wurde, ging es genau darum – nämlich kritisch zu hinterfragen, inwieweit unsere Verwendung von neuen Technologien zunehmend unsere Wahrnehmung und somit unser soziales Miteinander mitbestimmt.
Gemeinsam mit 13 Kollaborateur*innen, bestehend aus Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen, wollten Eckermann und Nestler, so der Text, den Eckermann zu Beginn rezipierte, eine „osmotische Haut“ schaffen, in der „das Virtuelle zur Membran zwischen physischen Orten und virtuellem Raum wird“. Die Frage danach, was das Virtuelle – abgesehen von jedem metaphorischen Verständnis – ist, stand performativ im kollektiv erschaffenen Galerieraum von Planetary Skins, wobei der Raum als Interface zwischen dem Geschehen vor Ort und den „eingezoomten“ Beitragenden diente.
Im vorderen Bereich der Galerie befand sich eine Performerin, die auf dunkler Erde sitzend in künstlich hergestellte Latexhäute gehüllt war. An den Wänden um sie herum sowie am hinteren Ende des L-förmigen Raums waren weitere Latexobjekte aufgehängt, während im mittleren Teil eine digitale Wandprojektion von Anna Pompermaier und Çenk Güzelis/studio3 zu sehen war. Dabei wurden Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Sänger*innen und Philosoph*innen, die sich entweder in der Galerie oder auf zwei anderen Kontinenten befanden, in annähernder Lebensgröße projiziert. Um den live zugeschalteten Personen ebenfalls eine materielle Präsenz zu geben, wurden deren Körper auf spiralförmigen Säulen aus Metallgewebe gezeigt und ihre Stimmen mitübertragen.
Die Dramaturgie des Abends, Teil der Gesamtinstallation, entstand durch die Paarung einer zweidimensionalen digitalen Wanddarstellung, die das Zentrum der Aufmerksamkeit der meisten Zuschauer*innen bildete, und den Texten, die die involvierten Personen rezitierten. Die verbalen Ausarbeitungen von Planetary Skins nahmen Bezug auf Theorien, die sich mit Technizität im Anbetracht des aktuellen Ökologiediskurses auseinandersetzen. Die zweite Protagonistin des Events, Carmen Lael Hines (the master of cermony), griff in dem von ihr vorgetragenen Text, den Nestler verfasst hatte, beispielsweise das taoistische Konzept des Kosmos von dem chinesischen Philosophen Yuk Hui auf und fragte spekulativ: „Don’t we need a different approach to technlogy and the digital?“ 
Hines verkörperte die Idee, dass dieser neue Zugang einer sein müsste, der nicht den „technocapitalist fantasies of the Metaverse“ entspreche. Weiteres versicherte uns Hines, dass es hierbei um „sense“ und „sense-making“ gehe. So wie sie und Eckermann auf den Begriff der Natur rekurrierten, brachte Nestler in seinem eigenen Textbeitrag „nature“ in Verbindung mit „artificial intelligence“ und versicherte: „nothing is unnatural, not even artificial intelligence“.
Die performative Radikalität, die diese Texte vermittelten, verdichtete sich vor allem in dem von Tanja Traxler vorgetragenen und geschriebenen Beitrag. Sie bezog sich auf Henri Bergson und Gilles Deleuze und erklärte: „virtual particles embody […] a form of possibility which is real in it being possible“. Die Materie, die spielerisch in den Mittelpunkt des hybriden Raums gerückt wurde, brach sich an dem Verhalten der meisten Besucher*innen. Wie Insekten, die sich nachts nicht der Anziehung des künstlichen Lichts entziehen können, klebten die Augen von vielen an der lebhaft animierten bunten Wandprojektion. Den Satz, den Traxler gegen Ende zweimal wiederholte, trieb den performativen Charakter des Kunstevents auf die Spitze: „needless to say that nothing really matters“.
Obwohl diese multimediale, ins Philosophische gehende Aufbereitung im Mittelpunkt des Galerieraums die Verbindung von Technologie und Natur vor allem textuell beeindruckend unterstrich, wirkten zwei andere Komponenten des Events für mich deutlich wichtiger. Zum einen die installative Soft- und Hardware, die wortwörtlich hinter der digitalen Wandprojektion und der sozialen Struktur des Kunstprojekts stand, und zum anderen die wohl körperlich extremste Aktion des Abends: Am Ende nahm die in eine Latexhaut gehüllte Performerin eine Handvoll Erde, auf der sie saß, und begann diese langsam zu essen, ohne sie sichtbar wieder auszuspucken. Kurz gesagt, durch das perfekt ausgearbeitete Zusammenbringen von Körperlichkeit, performter Textualiät und digital erzeugten Realitäten vermittelte Planetary Skins eine künstlerische Annäherung an das, was wir als „virtuell“ bezeichnen können.
Während der komplexe Begriff des Digitalen im Kunstbereich oft auf ein digitales Bild reduziert wird, das mithilfe von Computern erzeugt wird, eröffnet das Virtuelle einen Ort, der zwischen geistiger Vorstellungskraft und verkörperlichter Projektion oszilliert. Die ursprüngliche Etymologie des Begriffs „virtuell“, zurückgehend auf das 14. Jahrhundert, verdeutlicht, dass das Virtuelle aus körperlichen Möglichkeiten im Anbetracht von inhärenten natürlichen Qualitäten hervorgeht. Ohne das Material, das einen gewissen Qualitätscharakter hat, kann das Virtuelle nicht entstehen. Die Bedeutung des englischen Begriffs „matter“, verstanden im Sinne von Stoff und Materie, ist abhängig von dem, was möglicherweise noch nicht sichtbar ist. Das Virtuelle meint somit die Verbindung von verkörperten Ideen und angeeignetem Material, oder um einen Begriff von Elisabeth Grosz zu benützen: Es fungiert als das „Unstoffliche“ (the incorporeal).2 Das Virtuelle operiert performativ, es existiert, ist aber nicht vollkommen materialistisch greifbar.
Das Performancekunst-Event Planetary Skins erzeugt ein Verständnis von Virtualität, das die Vorstellungskraft für etwas, das noch nicht vollkommen im realen Raum existiert, durch dessen kritisch-sozialen Metabolismus ersetzt, der sich als eine Form der kulturellen Produktion entpuppt. Es reiht sich somit in eine neuartige Linie von spekulativen und originellen künstlerischen Ansätzen ein, die über den Begriff des Postdigitalen und die Kunstsparte der neuen Medien hinausgeht. Planetary Skins leistet einen wichtigen künstlerisch-theoretischen Beitrag, der die geteilte Erfahrung unserer Hybridität in den Mittelpunkt stellt. Es ist nicht das Medium, das vorgeführt wird, sondern das soziale System, das mithilfe von technologischen Mitteln performt.
Obwohl die digitalen Medien des 21. Jahrhunderts künstlich erzeugt werden und selbst in unseren kapitalistischen Systemen (die Kulturindustrie miteingeschlossen) performen, sind sie nicht automatisch als virtuell einordbar. Abstrakte animierte Bildlichkeiten und materielle Körperlichkeiten sind relativ. Erst wenn das eine mit dem anderen zusammenspielt, können wir von einer gelungenen virtuellen Performance sprechen; im Idealfall reduziert diese unsere visuelle Wahrnehmung nicht auf zweidimensionale Objektträger, sondern erweitert sie kinästhetisch und räumlich.

Sylvia Eckermann/Gerald Nestler – Planetary Skins, Galerie Elisabeth & Klaus Thoman, Innsbruck, 28. Mai bis 3. Juni 2023; Performance im Rahmen des Festivals Heart of Noise am 27. Mai 2023.

 

 

[1] Vgl. Christa Benzer, Demonstrationen kollektiven Vermögens, in: springerin 1/2018; https://www.springerin.at/2018/1/demonstrationen-kollektiven-vermogens/.
[2] Elizabeth, Grosz, The Incorporeal: Ontology, Ethics, and the Limits of the Material. Columbia University Press 2017.