Heft 1/2024 - ArtGPT


Künstler*innen als User*innen oder als Tools?

Künstlerische Erkenntnis im Zeitalter Künstlicher Intelligenz

Anuradha Vikram


Warum sollten die Belange von Künstler*innen bei Entscheidungen über die Entwicklung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) zum allgemeinen Gebrauch Berücksichtigung finden? Ist die KI ein Werkzeug, haben Künstler*innen wenig zu befürchten. Sind die Künstler*innen jedoch selbst die Werkzeuge, werden sie wohl bald schon ersetzt. Der Einfluss von KI auf die künstlerische und kreative Arbeit verändert nicht nur die Art und Weise unseres Schaffens, sondern auch das, was wir erschaffen, und was damit geschieht, wenn wir es in die Welt entlassen.
In meiner Heimatstadt Los Angeles erregte dieses Thema 2023 viel Aufmerksamkeit, da Hollywood durch die Streiks der Writers Guild of America (WGA) und der Screen Actors Guild einen Großteil des Jahres lahmgelegt wurde. Auslöser für beide Streiks war nicht zuletzt der Fokus auf die zunehmende Bedrohung, die KI für jene Künstler*innen darstellt, die von ihren Worten bzw. ihrem Bildnis leben und die für Studios arbeiten, die ihre kreativen Produkte zur Steigerung der Gewinnspanne künftig in KI-gestützte Produktionen umwandeln möchten. Darsteller*innen werden bei ihrer Arbeit an Filmproduktionen 3D-gescannt, damit ihr Bild ohne ihr Mitwirken reproduziert werden kann. Autor*innen und bildende Künstler*innen erleben, wie ihre urheberrechtlich geschützten Werke ohne ihre Einwilligung in KI-Datenbanken eingespeist werden.1 Musiker*innen laufen sogar Gefahr, völlig überflüssig zu werden, denn die KI-gestützte Komposition und Wiedergabe von Musik ist bereits weitverbreitet.
In einem viralen Tweet fragte der Comedian und Videoproduzent Matt Somerstein einige Wochen nach Beginn des Autor*innenstreiks auf X (ehemals Twitter): „Warum nutzen wir die KI nicht auch dazu, das Plastik aus den Weltmeeren zu holen, oder müssen alle Roboter unbedingt Drehbuchautor*innen sein?“2 Es scheint, als würden stumpfsinnige Plackerei und die Beseitigung der von Großkonzernen verursachten Umweltschäden weiterhin rein menschliche Aufgaben bleiben, während Tätigkeiten, die uns Freude bereiten und unseren Geist anregen, rapide automatisiert werden. Hollywoodkünstler*innen sind davon besonders betroffen. Anders als Galeriekünstler*innen und Musiker*innen, die ihre Werke für gewöhnlich selbst produzieren und dem Publikum zugänglich machen, werden Drehbuchautor*innen und Künstler*innen, die die Ästhetik für Spielfilme, Fernsehserien und Spiele entwickeln, für gewöhnlich von Produktionsfirmen auf Projektbasis engagiert. Das Copyright für ihre Arbeiten verbleibt in der Regel bei den Produzent*innen und nicht bei den Künstler*innen. Daher ist das Risiko, dass ihre Werke von einer KI gesammelt und schließlich reproduziert werden, sehr viel höher. In ihrem Arbeitsverhältnis sind die urheberrechtlichen Bestimmungen zum Schutz des geistigen Eigentums von unabhängigen Künstler*innen bereits zugunsten der Produzent*innen geregelt.
Bildende Künstler*innen in der Spiele- und Effektebranche sind ebenfalls betroffen, denn ihre urheberrechtlich geschützten Originalarbeiten werden von den Entwickler*innen großer KI-Modelle wie Stable Diffusion unerlaubt extrahiert und in deren Datensätze eingespeist. Autor*innen wiederum stellen fest, dass ihre Bücher für Books3 [eine riesige illegale Bücherdatei zum Training von KIs, Anm.] „gescrapt“ werden, dessen Macher*innen sich dazu der Strategie von Open-AI (den Anbieter*innen von ChatGPT) bedienen. Diese nutzen ihre Einstufung als Non-Profit-Organisation nach Abschnitt 501(c)(3) des US-Bundesrechts als Schutzmantel, um sich urheberrechtlich geschützte Werke anzueignen und sich für ihre eindeutig kommerzielle Nutzung derselben dann auf die US-Rechtsdoktrin des „Fair Use“ zu berufen. Die „Fair Use“-Regelung erlaubt die Verwendung von geschützten Bildern und Texten jedoch nur zu Bildungs- und gemeinnützigen Zwecken. Es handelt sich dabei um ein sehr eingeschränktes Recht, das von Gerichten von Fall zu Fall entschieden wird.
So fällte der Oberste Gerichtshof der USA in der Causa „Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. gegen Goldsmith et al.“ kürzlich ein Urteil, das den Missbrauch der „Fair Use“-Regelung durch Unternehmen einschränken soll. Als Nachlassverwalterin Andy Warhols hatte die Stiftung präventiv Klage gegen die Fotografin Lynn Goldsmith erhoben, als diese ihr gegenüber Urheberrechtsansprüche wegen der unerlaubten Wiederverwendung eines Fotos durch Warhol angemeldet hatte, das sie 1981 von dem Musiker Prince gemacht hatte. Dem Condé Nast-Verlag hatte Goldsmith 1984 die einmalige Nutzung des betreffenden Porträtfotos eingeräumt, und zwar für ein von Warhol gestaltetes Cover der Zeitschrift Vanity Fair, auf dem es daraufhin als lila Siebdruck erschien. Als die Warhol-Stiftung dem Condé Nast-Verlag 2016 die Lizenz für ein anderes Siebdruckporträt nach derselben Fotovorlage zur Illustration eines Magazincovers erteilte, setzte Goldsmith die Stiftung darüber in Kenntnis, dass sie ihr Urheberrecht durch die erneute und in diesem Fall unautorisierte Veröffentlichung des Fotos verletzt sehe.
Der Oberste Gerichtshof der USA verhandelte nun die Behauptung der Stiftung, dass Warhols unerlaubte Verwendung von Goldsmiths Foto gemäß der „Fair Use“-Regelung zulässig sei. Der Künstler habe Prince durch die farbige Umgestaltung des Fotos im Siebdruckverfahren zur „Ikone“ gemacht und, anders als Goldsmith mit dem Original, keine journalistische Absicht verfolgt. Doch in dem Punkt widersprach das Gericht der Stiftung. Die Nutzung des Siebdrucks Orange Prince durch Condé Nast zu praktisch demselben kommerziellen Zweck wie beim ersten Mal (als Titelbild eines Magazins für eine Prince gewidmete Ausgabe) stelle die transformativen Aspekte der Bearbeitung des Fotos durch Warhol in den Hintergrund. Die Stiftung bekam allerdings Recht darin, dass die nicht genehmigte Weiterverwendung von Goldsmiths Foto für Warhols Siebdruckserie, zu der auch Orange Prince gehört, und der Verkauf der Drucke durch Warhol bzw. die Stiftung keinen Einschränkungen durch Copyright-Ansprüche seitens Goldsmith unterliege. Da es sich bei einem Siebdruck nicht um Journalismus handle, sondern um eine kulturelle Vergegenständlichung, wurde der Forderung der Stiftung nach einer transformativen Nutzung im Wesentlichen stattgegeben.3
Dieser Fall zeigt, dass sich „Fair Use“ nicht am Input, sondern am Output orientiert. Worum es geht, ist, dass urheberrechtlich geschützte Kunst und Literatur, die von KI-Datenbanken verarbeitet wird, nicht in direkten Wettbewerb mit der kreativen Arbeit der Schöpfer*innen dieser Inhalte treten darf, wenn ihre Verbreitung der „Fair Use“-Regel unterliegen soll. Das Gesetz in seiner aktuellen Fassung verhindert also nicht, dass Werke von Kreativen in einen Datensatz kopiert werden, sondern schützt sie nur davor, sich der direkten Konkurrenz mit dem Output aussetzen zu müssen, den der Datensatz aus ihrem per Copyright geschützten Werk generiert. Und selbst das nur, wenn die Urheber*innen in der Lage sind, ein Gerichtsverfahren zum Schutz ihrer Interessen einzuleiten und zu finanzieren, so wie es Lynn Goldsmith getan hat. Sicherlich hat auch ihre Bekanntheit im Bereich Fotojournalismus – trotz ihrer im Vergleich zu Warhol geringeren Marktmacht hat sie ihre Fotos von Prince an Magazine wie People, Newsweek, Guitar World und Musician verkauft4 – bei der Verteidigung ihrer Interessen vor Gericht eine Rolle gespielt.

Improvisieren mit Maschinen
Auch wenn Künstler*innen bereitwillig technologische Neuerungen aufgreifen, kann das Resultat unheimlich ausfallen. Der Musiker Dan Tepfer schreibt Algorithmen, die es ihm erlauben, sich von einem digitalen Pianola begleiten zu lassen. Wenn Tepfer improvisiert, reagiert der Algorithmus in einem vorgegebenen Intervall mit einer Note, die jedoch an einer unvorhersehbaren Stelle innerhalb der Oktaven erklingt. Tepfer kann erahnen, aber nicht vorhersehen, was der Algorithmus tun wird. Musik ist aufgrund ihrer von Natur aus mathematischen und algorithmischen Struktur für KI-Programmierer*innen die womöglich geeignetste Kunstform. Künstlerische Darbietungen wie die von Tepfer werfen die Frage auf, ob das Improvisieren mit Maschinen genauso spontan sein kann wie das Improvisieren mit Musiker*innen. Denn die Unberechenbarkeit und die Erkenntnis der menschlichen Kunstfertigkeit bleiben zu einem Großteil immer noch der Solokünstler*in vorbehalten. Es bleibt auch die Frage, inwieweit der Algorithmus die künstlerische Reaktion der Interpret*in beeinflusst und nicht bloß abzubilden versucht. Algorithmen zur Vorhersage menschlichen Konsumverhaltens, etwa Programme, die Börsenkurse vorhersagen, oder Systeme zur Optimierung von Instagram-Posts, zeigen sehr schnell, dass sie menschliches Verhalten und jenes der von Menschen geschaffenen Systeme nicht nur voraussehen, sondern auch verändern können. Menschen sind leicht zu beeinflussen, und Improvisation lebt von Beeinflussung ‒ allein geht das nur schwer. In Tepfers Fall ist die Mathematik der Impuls, der die für Innovation notwendige kreative Spannung erzeugt.
Im Ars Electronica Center in Linz thematisiert eine Ausstellung mit dem Titel AI x Music den Einfluss der neuen digitalen Werkzeuge auf das für die Musik so typische Zusammenspiel zwischen Spontaneität und Struktur. Die Ausstellung präsentiert unter anderem ein kurbelbetriebenes Walzenklavier von ca. 1900, das anhand eines mit Metallstiften versehenen hölzernen Zylinders Musik abspielt. Auf Wunsch können zeitgenössische Musiker*innen über ein mit Musikstilen klassischer, westlicher Komponist*innen programmiertes KI-System namens Ricercar (entwickelt von dem KI-Forscher und Komponisten Ali Nikrang) neue Stücke im Stil von Bach oder Mahler komponieren. Auch wenn wir selbstspielende Klaviere heute als Relikte aus der Vergangenheit betrachten, haben Musiker*innen in Bars und Restaurants um 1900 vermutlich um ihre Existenz gefürchtet, als sie durch Pianolas ersetzt wurden. Ebenso könnten heutzutage professionelle Pianist*innen Auftrittsmöglichkeiten verlieren, wenn digitale Pianolas zur Selbstverständlichkeit werden.
All das verweist auf die Kluft zwischen den wirtschaftlichen Bedingungen eines Künstler*innenlebens und den tatsächlichen Ressourcen, die denjenigen zur Verfügung stehen, die ein solches Leben wählen. Die wichtigsten Aufgaben von Künstler*innen – ästhetische Neuerungen, emotionale Katharsis, intellektuelle Erkenntnis – kommen beim Einsatz von Algorithmen zu kurz. Gleichzeitig werden ihre Möglichkeiten, ein Einkommen zu erzielen, indem sie ihre kreativen Fähigkeiten in Sachen Design, Vermarktung, Produktion usw. zu kommerziellen Zwecken einsetzen, durch den Vormarsch der KI sicher beschnitten werden. In einer Kultur, in der künstlerisches Schaffen als soziale und kulturelle Bereicherung gelte, würden Künstler*innen wahrscheinlich nicht in dem Maße durch KI-Technologien in ihrer Existenz bedroht werden, wie wir es heute erleben. Durch niedrigere Kosten für Wohn- und Arbeitsräume, mehr Sozialprogramme für Geringverdiener*innen und eine stärkere kulturelle Integration des Technologie- und Kreativsektors und ihrer Communitys würde die derzeitige Bedrohung der Lebensgrundlage von Künstler*innen durch KI-Technologie ganz oder zumindest weitgehend verschwinden. Ebenso könnte die Furcht vor dem Diebstahl geistigen Eigentums durch besseren Rechtsschutz für freischaffende Urheber*innen einhergehend mit dessen Durchsetzung spürbar gemildert werden. Unter solch verbesserten Bedingungen könnten sich Künstler*innen ganz auf die Möglichkeiten konzentrieren, die ihnen diese Werkzeuge für ihre kreative Arbeit eröffnen. Stattdessen müssen sie ihre begrenzte Energie und ihre spärlichen Mittel darauf verwenden, ihre Werke gegen die Ansprüche von Großkonzernen und deren aggressive Lobbyarbeit für Datenschutz und Urheberrechtsgesetze, die einzig deren Geschäftsinteressen entgegenkommen, zu verteidigen.
Die Qualität dieses kreativen Outputs wird sich zweifellos stark von dem unterscheiden, was Menschen oder eine KI allein erschaffen können. Wenn die Wahrheit irgendwo zwischen dem, was wir wahrnehmen, und der Beschreibung dieser Wahrnehmungen liegt, dann ist künstlerisches Schaffen vermutlich zwischen dem, was wir uns vorstellen, und dem, was wir tatsächlich erschaffen, angesiedelt. Der beste Beweis für menschliche Intelligenz ist vielleicht die Erfindung und Handhabung von Werkzeugen. Die Werkzeuge, die wir nutzen, haben unweigerlich Einfluss auf unsere Erkenntnisse. Doch ohne die menschliche Fähigkeit zu kritischem Denken und zu Erfindungen können Werkzeuge nur noch aufwendigere Versionen dessen reproduzieren, was wir bereits besitzen. Um die Integrität der Kunst zu bewahren, müssen wir die Kreativen dazu ermächtigen, ihre Interessen zu schützen.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Is AI the End of Creativity – Or a New Beginning?, Zócalo Public Square, 28. November 2023; https://www.youtube.com/live/UzMs9xgMDMo.
[2] Matt Somerstein (@MPSomerstein), X, 18. Mai 2023; https://x.com/MPSomerstein/status/1659203829026680838?s=20.
[3] Supreme Court of the United States, Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. v. Goldsmith et al., Urteil vom 18. März 2023; https://www.supremecourt.gov/opinions/22pdf/21-869_87ad.pdf.
[4] Ebd., S. 6.