Heft 2/2024 - Lektüre



Leah Hunt-Hendrix/Astra Taylor:

Solidarity

The Past, Present, and Future of a World-Changing Idea

New York (Pantheon Books) 2024 , S. 76 , EUR 30

Text: Christian Höller


Blickt man auf die Veröffentlichungslisten der letzten Jahre, so herrscht kein Mangel an Publikationen zum Thema Solidarität. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass die aktuelle Krisenlage nach einer „gemeinsamen antikapitalistischen Klammer“ (Natascha Strobl), einer „Überwindung der imperialen Lebensweise“ (Alexander Behr) oder schlichtweg der Neukalibrierung einer „großen Idee“ (Heinz Bude) verlangt – um nur drei von vielen Autor*innen zu nennen, die sich zuletzt mit der Thematik befasst haben. Fast könnte man meinen, angesichts dieser Vielzahl an rundumerneuerten Begriffsbestimmungen in einer höchst solidaritätsaffinen Zeit zu leben – etwas, das durch die tagtäglichen Solidaritätsbekundungen unterschiedlichster gesellschaftspolitischer Akteur*innen mit dieser oder jener Sache unterstrichen wird. Und doch bleibt der etwas schale Nachgeschmack, dass hier ein weitgehend sinnentleerter Signifikant bemüht wird, die Inanspruchnahme eines gratis zu habenden Verbundenheitsvehikels erfolgt, weil konkret-inhaltlich dabei schon lange nichts mehr auf dem Spiel steht. Was wiederum der nicht abreißende Publikationsstrom zurechtrücken möchte, der, so präzise er sich dem Thema auch widmen mag, nolens volens zur weiteren Inflation des Begriffs beiträgt.
Was Solidarity. The Past, Present, and Future of a World-Changing Idea der beiden US-Autorinnen Leah Hunt-Hendrix und Astra Taylor von diesem nivellierenden Strom abhebt, ist zweierlei: erstens ein geradezu abenteuerliches biografisches Moment, das die Studie inmitten heutiger, sich auf komplexe Weise kreuzender Lebensrealitäten verankert; und zweitens die Zuspitzung auf eine dezidiertermaßen transformative Solidarität – ein weltveränderndes, ja welterschaffendes Konzept, das sich mitnichten in der nostalgischen Beschwörung verloren gegangener Werte erschöpft. Im Gegenteil: Was die beiden mit kenntnisreichem Blick auf die US-, aber auch die Globalgeschichte darlegen, ist nichts weniger als die Blaupause einer gerechteren, von sozialer wie planetarischer Interdependenz bzw. Wechselseitigkeit geprägten „world in the making“ – alle nötigen Neujustierungen inner- wie überstaatlicher Institutionen gleich mit inbegriffen. Wobei auch Beispiele gelungener Mobilisierungsmodi, das „Problem mit der Wohltätigkeit“ und die an Simone Weil angelehnte Neubestimmung eines sozialisierten „Heiligen“ nicht zu kurz kommen, um nur einige Eckpfeiler dieses geschichtsschweren, aber zugleich höchst zukunftsorientierten Buches zu nennen.
Doch zurück zum biografischen Hintergrund: Leah Hunt-Hendrix stammt aus der Dynastie des berühmten texanischen Ölmagnaten H. L. Hunt (ihr Großvater), einem bekennenden Rassisten und Antikommunisten, der dennoch nicht umhinkam, sein Megavermögen an seine Nachfahr*innen zu vererben, die – wie schon Leahs Mutter und nunmehr sie selbst – der Philanthropie zuneigen. Hunt-Hendrix ist studierte Religions- und Politikwissenschaftlerin und hat, nachdem sie mit Occupy Wall Street in Berührung kam (die sie auch großzügig unterstützte), Wohltätigkeitsorganisationen wie Solidaire und Way to Win ins Leben gerufen. Wobei sie diese, ganz im Sinne der hier ausgeführten transfomativen Solidarität, nicht als macht- bzw. hierarchieverfestigendes Almosengeben an Leute, mit denen man ansonsten nichts zu tun hat, verstanden wissen möchte. Vielmehr schwebt Hunt-Hendrix das Modell einer solidaritätsbasierten Wohltätigkeit vor: klassen- wie ethnizitätsübergreifend und auf Klimabelange ebenso Rücksicht nehmend wie auf global mehr denn je drängende Dekolonisierungsbestrebungen.
Über Occupy Wall Street kam Hunt-Hendrix 2011 in Kontakt mit der Filmemacherin und Autorin Astra Taylor, die dort ein gänzlich anderes Anliegen verfolgte. Taylor ging es nämlich darum, angesichts der nach der Finanzkrise 2008 erfolgten Bankenrettung auf ihren höchstpersönlichen – im Laufe des Studiums angehäuften – astronomischen Schuldenstand aufmerksam zu machen: etwas, worin sie nicht allein war, was schließlich zur Gründung des von ihr mitinitiierten Debt Collective führte. Im Buch wird die Geschichte dieser Kollektivierungs- bzw. Entschuldungsbestrebung rekapituliert, die trotz massivem politischen Widerstand zu Teilerfolgen führte und 2022 einen Schuldenerlass in Milliardenhöhe erwirkte. Was immer noch zu wenig ist im Hinblick auf das transformative Solidaritätsziel einer kostenfreien Universitätsausbildung für alle, aber nichtsdestotrotz als beachtliches „world-changing event“ für eine breite Gruppe von Betroffenen verbucht werden kann.
Geschichten wie diese bilden jedoch nur eine von mehreren lebensweltlichen Verzahnungen, die Taylor und Hunt-Hendrix im Hinblick auf das jahrtausendealte Konzept der „obligatio in solidum“ (wie es im antiken Rom hieß) vornehmen. Ging es historisch um eine gemeinsam geteilte Schuld, die sich nur durch kommunitären Zusammenhalt über alle sozialen Schranken hinweg tilgen lässt, so erinnern die Autorinnen an zahlreiche historische Episoden, in denen dieses Moment emanzipatorisch zum Tragen kam: vom „Solidarismus“ der Jahrhundertwende (1900) rund um Léon Bourgeois über das Combahee River Collective in den 1970er-Jahren (auf welches der Begriff Intersektionalität zurückgeht) bis hin zu Bewegungen für globale bzw. reparative Gerechtigkeit – und vieles andere mehr.
Was all diese Ansätze verbindet, ist, dass sie gegen alle möglichen Widerstände eine neue Welt entstehen lassen wollen. Auch wenn die reaktionären Mächte der „Gegen-Solidarität“ nicht von der Hand zu weisen sind, ja in Bälde wohl mehr und mehr Teile des Globus regieren werden, existiert seit Langem ein reiches, nicht bloß utopistisches Ideenreservoir, die Realisierung einer verbindenden, planetarischen Wechselseitigkeit betreffend. Dieses immer dringender benötige Referenzspektrum ist es, das Hunt-Hendrix’ und Taylors gewichtiges Buch eindrucksvoll vor Augen führt.