Vor genau zwölf Jahren im Mai 2012 hielt Marie-Luise Angerer einen Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin, das scheint in der Erinnerung zu kurz – ist jedoch richtig. Sie sprach über „Affektive Modulationen in Theorie, Politik und Medien. Von affektiven und anderen Triebsystemen“ in der an das Graduiertenkolleg angegliederten Ringvorlesung.1 Hier fand eine erste persönliche Begegnung mit Marie-Luise statt, deren Buch Das Begehren nach dem Affekt allen bereits bekannt und der Grund für die Einladung war.2
Marie-Luise hatte dennoch immer – und sehr anders als die anglophonen Affect Studies – ein, es ließe sich fast sagen, bewusst distanziertes und kritisches Verhalten zu Emotionen und Affekt. Im Unterschied zu Brian Massumi etwa, den sie 2013 an die Kunsthochschule für Medien Köln zum Vortrag und Workshop eingeladen hatte, wo sie von 2000–15 die Professur für Medien-und Kulturwissenschaft und Gender auf- und ausgebaut hatte sowie das Amt der Prorektorin und Rektorin (2007–09) bestritt. 2015 wurde sie als Professorin für Medientheorie an die Universität Potsdam berufen.3
Bereits in Vom Begehren nach dem Affekt beschäftigt Marie-Luise die Frage einer Verschiebung innerhalb der Künste, des Körperempfindens der Rezipient*innen im Zusammenspiel mit Medientechnologien, deren differenzierte Theoretisierung ihr Werk bestimmt. Sie schreibt über die Haut, die den Körper umschließt, und setzt sie in Bezug zu dem Ich: „Das Ich ist nichts als ein Bild, dazu noch ein trügerisches, das wir immer verkennen [...] Die Haut ist alles, was wir haben, darunter befindet sich nichts, kein Ich, keine Seele, keine Wahrheit. Doch selbst diese Haut ist nicht einzigartig, sondern form- und veränderbar.“4 Später hat Marie-Luise sich ausführlich mit Membranen beschäftigt.5 Gedanken zur Haut, porösen Oberflächen führen bei ihr weiter zu Bildschirmen und Screens, die allgegenwärtig und immer intimer geworden sind und im Versuch der Immersion, gesprengt werden. Die Frage, nach dem, was Menschen, Technik, Bilder umhüllt und umschließt, so dass unser – zum Großteil aus Wasser bestehender – Körper nicht undicht wird, war neben der Frage nach den Affekten eine der Linien, die sich durch ihr Werk zogen. Von dem frühen Band Body Options (1999) führte sie über den langjährigen Dialog mit Zoë Sofoulis und ihren richtungsweisenden Text „Container Technologies“ (2000) bis zu dem Anfang dieses Jahres noch auf den Weg gebrachten Buch zu Containment: Technologies of Holding, Filtering, Leaking.6
Die Frage nach den affektiven Gefügen erweitert Marie-Luise in ihrer Medien- und Kunsttheorie später insbesondere in Richtung des „affective computing“ und denkt sie in Begriffsfiguren weiter. Die sensiblen Technologien der allgegenwärtigen digitalen Medien seien nicht mehr „big brother is waching you“, sondern vielmehr im Sinne von Rosalind W. Picard „pleasing little sisters“ und gibt zu bedenken: „Mit der Figur dieser kleinen Schwester wird nun allerdings einem Trojanischen Pferd gleich eine lange Tradition von Zuschreibungen (wieder) in die Technikwelt importiert: von Frauen als helfenden Kräften, von Frauen als unsichtbaren Zuarbeiterinnen, von Frauen als von Natur aus gefühlvolleren Menschen sowie als anspruchslosen Lebensbegleiterinnen.“7 Dies belegt sie eindrucksvoll mit filmischen und künstlerischen Beispielen von Spike Jonze’ Her über Kathryn Bigelows Zero Dark Thirty bis hin zu Apples Siri, die Spracherkennungsapp, die seit 2011 auf iPhones angeboten wird und bewusst intime Kommunikation imitiert. Auch dies zeichnete ihr Denken aus, dass sie ihre Theorie immer wieder mit konkreten alltäglichen und künstlerischen Materialien engführte.
Häufig begegnete ich ihr alleine oder zusammen mit Rolf Walz, an unterschiedlichen Berliner Institutionen – etwa im Haus der Kulturen der Welt, bei der damals dort stattfindenden transmediale, in Ausstellungen im Gropius Bau oder der Akademie der Künste sowie am ICI Institute of Cultural Inquiry bei Vorträgen und Symposien. Wenn man sie traf, entstand immer so etwas wie eine positive Affizierung. An anderen Stellen wurde bereits von ihrem Lachen und ihrer Stimme berichtet, ich möchte noch an ihren Blick erinnern. Sie schaute das oder die Gegenüber mit einem Strahlen erwartungsvoll-gespannt an, so dass Dialoge und Ideen im Sprechen entstanden – man wollte sie auch nicht enttäuschen. Es gab eine sich übertragende Energie, einen Flow, da sie das Vermögen in denen sah, mit denen sie arbeitete, und in denjenigen, die sie unterrichtete. In der häufig durchgetakteten und kompetitiven akademischen Welt nahm sie sich die Zeit, um sich mit anderen auseinander- und für andere einzusetzen.
2017 sprach sie an der Akademie der Bildenden Künste München zu Medial mobilisierten Affekten über die gegenwärtige Technisierung und digitale Generierung affektiver Muster, die nachfolgend als Emotionen übersetzt und benennbar werden.8 Die Frage der Zeitlichkeit, des Intervalls, der von Herta Sturm und Brian Massumi vielfach beschworenen „fehlenden halben Sekunde“ erklärte sie als zentral in der Angleichung von Maschinenzeit und humanem Zeitempfinden. Überraschenderweise beendete sie den Vortrag mit einem Verweis auf Althussers’ Bemerkungen über den Regen und daraus folgend für einen Materialismus der Kontingenz, eine Notwendigkeit des Greifens und Ergriffenwerdens. Sie betonte, dass jenseits von vorprogrammierten Ergebnissen die aleatorischen Reihen lägen – durchaus auch als Geste der Öffnung für Politik gemeint.
Am Institut für Künste und Medien an der Universität Potsdam lud sie N. Katherine Hayles zur ersten Spring Lecture am ZeM im Mai 2018 ein, die über „non-conscious cognition“, sprach und eine sehr lebhafte Diskussion mit Mitgliedern des Sensing-Kollegs9 hervorrief. Ihr 60. Geburtstag wurde im ZeM in Potsdam mit einem Vortrag von unter anderem Zoë Sofoules und Jan Distelmeyer gebührend gefeiert.
In dem fast immer vollen Zug von Berlin nach Potsdam Park Sanssouci, wo sich die Lehrenden der EMW unwillkürlich trafen, ließen sich Gedanken formulieren, Marie-Luise erzählte von einem Ausstellungsbesuch und Tino Seghals konstruierter Situation It’s so contemporary, die ihr anders als vielen Besucher*innen überhaupt nicht gefallen hatte.10 Außerdem interessierte sie ein Film von Chloé Zhao (The Rider, 2017), von dem sie sagte, die Kamera würde aus der Sicht des Pferdes schauend, die Geschichte erzählen.11 Marie-Luise wirkte immer so schnell und analytisch, vielleicht passt dazu, dass sie einmal erzählte, dass sie die älteste mehrerer Geschwister sei und daher schnell mit dem Studium fertig werden musste. Ins Ausland konnte sie darauffolgend mit einem Habilitationsstipendium – sowohl nach Australien, die USA (San Diego und Santa Cruz) und Kanada.
Während der Pandemie hörte ich sie in einer Online-Lecture beim IFK Wien sprechen, daraus entstand das Buch Nichtbewusst: Affektive Kurzschlüsse zwischen Psyche und Maschine.12 Auch in der da schon beginnenden Zeit der Erkrankung, als nur fernmündliches Sprechen möglich war, blieb sie immer erreichbar und so zuversichtlich. Bei einem der letzten persönlichen Treffen plante sie mit ihrer Mitarbeiterin noch eine Exkursion mit Studierenden nach Linz zum VALIE EXPORT Center. Ihre Lebendigkeit, ihr Optimismus und ihre fortwährende Produktivität in Form von Texten, Vorträgen und ihre Ansprechbarkeit standen im absoluten Widerspruch zu ihrer schweren Krankheit, bis zuletzt schien es daher unvorstellbar, dass sie nicht wieder gesund werden würde. Sie hinterlässt eine riesige Lücke.
[1] Am 23. Mai 2012 in Berlin; https://www.gender.hu-berlin.de/de/veranstaltungen/archiv/listen/pdf_dokumente/12_sose_rv.pdf.
[2] Marie Luise Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt. 1. Auflage. Zürich/Berlin diaphanes 2007. Das Buchcover zeigt ein Detail aus einer Arbeit von Rolf Walz mit dem Titel ReConstruction | Village of the Damned, 2005. Das Buch ist mittlerweile vergriffen.
[3] Im Studiengang europäische Medienwissenschaft (EMW), außerdem war sie geschäftsführende Direktorin des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaft ZeM.
[4] Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt, S. 94.
[5] Sie unterrichtete ein Masterseminar dazu in Potsdam und war auch als Vortragende bei der Membra(i)nes-Ausstellung der Burg Giebichstein im Juni 2023 eingeladen.
[6] Herausgegeben zusammen mit Ingrid Richardson, Hannah Schmedes und Zoë Sofoulis. Der Band ist bei meson press, Lüneburg, im Erscheinen 2024, als Open-Access-Publikation und in Print.
[7] Angerer in: Susanne Witzgall/Marietta Kesting, Politik der Emotionen/Macht der Affekte. Berlin/Zürich: diaphanes 2021, S. 103, siehe auch Marie-Luise Angerer/Bernd Bösel, Capture All, oder: Who’s Afraid of a Pleasing Little Sister? In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 7. Jg., Heft 13 (2/2015): Überwachung und Kontrolle, S. 48–56.
[8] Der Vortrag ist in der Mediathek des cx centrums für interdisziplinäre studien verfügbar; https://www.adbk.de/de/studium/lehrangebot/theorieangebot/cx-centrum-fuer-interdisziplinaere-studien/cx-mediathek/2519-marie-luise-angerer.html.
[9] Graduiertenkolleg Sensing: Zum Wissen sensibler Medien.
[10] In: Immersion: Welt ohne Außen 2018, Gropius Bau, Berliner Festspiele.
[11] Regie: Chloé Zhao, The Rider 2017, 1:44 Min., USA, https://www.imdb.com/title/tt6217608/, letzter Zugriff: 24. Mai 2024.
[12] Wo sie auf Einladung des damaligen Direktors Thomas Macho Fellow war. Siehe Marie-Luise Angerer, Nichtbewusst: Affektive Kurzschlüsse zwischen Psyche und Maschine. Hg. von Thomas Macho, ifk lectures, Wien: Turia und Kant 2022. Auf Englisch erschien es als Nonconscious: On the Affective Synching of Mind and Machine bei meson press: Lüneburg 2022, https://meson.press/books/nonconscious/