Das Anliegen der Redaktion, zum 30. Jahrestag der springerin eine „reflexive Selbst-Ethnografie“ vorzunehmen, klingt zunächst eher nach Selbstkasteiung als nach Jubel. Und tatsächlich gibt es nach so vielen Jahren das Risiko, zu ermüden oder zu erstarren, Offenheit und Flexibilität zu verlieren. Diese Befürchtung erklärt vielleicht, warum die von der Redaktion gestellten Fragen in der Mehrzahl darauf abzielen, was falsch gelaufen ist und was man anders machen sollte.
Was meine gelegentlichen Beiträge angeht, halte ich eine der Fragen für gut zutreffend: „Welche diskursiven Setzungen haben auch rückblickend noch Bestand?“ Ich finde nämlich, der am meisten inspirierende und spannendste Aspekt der Zeitschrift ist und bleibt, dass die Redaktion Beiträge über „noch nicht etablierten“ Ideen in Auftrag gibt bzw. annimmt. Damit initiierte sie einige Diskurse gleichsam in ihrem Keim. Dies ist an sich auch schon eine Antwort auf die nächste Frage: „Welche Form von Kunstdiskurs dem Kommenden, Noch-nicht-Etablierten über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus angemessen sein könnte?“ Das „Noch-nicht-Etablierte“, Innovative, Experimentelle ist für Künstler*innen beinahe Pflicht, irgendwie aber nicht für Schreibende. Das Experimentelle im Genre des theoretischen Schreibens, der Entwurf einer Vision also, soll nicht einfach zusammengeschustert, sondern vielmehr ein Versuch sein, Phänomene zu artikulieren, die man noch nicht deutlich wahrnimmt, deren Umrisse noch unscharf sind. Es dient als Sprungbrett zur Einführung eines Problems, das erst später auszuarbeiten ist.
Wenn ich auf meine Beiträge für die Zeitschrift zurückblicke, dann sind sie alle von dieser Sorte des „Erstkontakts“ mit einem Thema, des Austestens von etwas Neuem, eine Art Beschnüffeln eines Themas, das noch keinen Namen hat. Das Vertrauen der Redaktion in solche Blindflüge ermutigte mich, durch den Nebel zu stoßen, um einen festen Halt für später zu gewinnen, wenn sich der Nebel lichtet und der Diskurs Form annimmt bzw. breiter wird. Keiner meiner Beiträge war geschliffen, fertig oder endgültig; alle waren sie „Wachstumskeime“1.
So wurde 2008 der Essay „Nachwirkungen: Das Trauma der kollektiven Erinnerung an die sozialistische Vergangenheit“2 davon angestoßen, dass westliche Kritiker*innen Kunstwerke, die sich mit der sozialistischen Vergangenheit in Osteuropa beschäftigten, meist nostalgisch deuteten, während Kritiker*innen aus dem ehemaligen Ostblock sie ganz anders, nämlich als notwendige Aufarbeitung verstanden.3 Mein Text versuchte, aus der Perspektive östlicher Kunstpraxen einen ersten Einblick in die Erinnerungspolitik und die westliche Herrschaft in Sachen Theorie zu geben, die schließlich in der Venedig Biennale von 2007 gipfelte.4 Später wurde der Diskurs dann nuancierter und differenzierter, und Ungarns Nachbarländer konnten ihre eigene Geschichte einbringen.
Der flächendeckende Nationalismus war in Ungarn hausgemacht. Sein Same wurde während des kurzen Zwischenspiels einer rechten Regierung5 gesät und blühte dann ab 2010 zu einer intensiven Renationalisierung auf.6 Während der vier Jahre der ersten Fidesz-Regierung wurde eine „illiberale Demokratie“ eingeführt, die nach und nach alle Ebenen der Gesellschaft durchdrang und das Land entscheidend prägte. Mit seiner berüchtigten Führung galt Ungarn fortan als Vorreiter für ethnischen Nationalismus, Populismus und das Aufbegehren gegen die Europäische Union (bei gleichzeitigem Kassieren von EU-Geldern). Das Land wurde zu einem Vorbild für die modernen Regime von Vladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan, die Hand in Hand mit dem neuen alten Präsidenten der Vereinigten Staaten einen autoritären Kurs verfechten. „Die Nationalismusfrage ist unausweichlich“7 schrieb ich zu einer Zeit, als deren Dimensionen und Konsequenzen noch unvorstellbar waren. Wie weit sind wir heute von jenen analytischen Werken entfernt, die in der Ausstellungsreihe Private Nationalism (2015)8 und ihrer Erweiterung Universal Hospitality (2017) gezeigt wurden! Dabei sind diese Projekte, die ich aufgrund meiner frühen Schriften zum Nationalismus kuratieren durfte, bis jetzt nicht abgeschlossen. Als wir Kuratorinnen versuchten, die Ausstellung dem Queens Museum in New York City anzubieten, bekamen wir zur Antwort, dass es sich dabei um unsere lokale Angelegenheit handle, die rein gar nichts mit den USA und ihren Problemen zu tun habe. Nun, das ist heute gewiss nicht mehr der Fall.
Die Fragen wiederum, die ich in dem Essay „Von der Verwandlung einer (post-)sozialistischen in eine autoritär-nationalistische und autokratische Kunstinstitution“9 aufwarf, sind sieben Jahre später immer noch relevant, wenngleich wir überzeugenden Antworten nicht wirklich nähergekommen sind. Mittlerweile ist das „NER“ (System nationaler Zusammenarbeit) in Ungarn so stark verwurzelt, dass es die ganze Gesellschaft durchdringt und die Korruption im Alltag normal geworden ist. Gleichzeitig wurden das Gesundheits- und das Bildungssystem ruiniert, und jede Meinung, die von der offiziellen abweicht, wird als unpatriotisch bzw. als Gefahr für die Souveränität des Landes gebrandmarkt. Diese Rhetorik ermächtigt die Behörden, NGOs und Intellektuelle zu verfolgen und damit auch noch die letzten Inseln des Widerstands zu zerschlagen. Unbehagen und Skepsis greifen so sehr um sich, dass jede Opposition davon gelähmt wird. Und es gibt auch kaum Hoffnung auf Veränderung. Es fällt mir schwer, den enormen Gegensatz zu Belgrad, wo Tausende Studierende auf die Straße gehen, und zu Bratislava, wo Tausende gegen das Fico-Regime demonstrieren, zu erklären, während in Budapest das Schweigen ohrenbetäubend ist und sogar die Erinnerung an 1956 zu verblassen droht.10
Dieser Essay sollte ein Betrag über Selbst-Ethnografie werden, herausgekommen ist ein skizzenhaftes Doppelporträt aus einem ganz bestimmten Blickwinkel. Wie dem auch sei: Ein Hoch auf die springerin zu ihrem Geburtstag! Und mögen sich all jene finden, die ihre noch unentdeckten Fäden und losen Enden aufnehmen, um weiter daran zu arbeiten. Wir leben in einer Zeit ökologischer, politischer und sozialer Krisen, wachsender Ungleichheit und massiver Unsicherheit. In unserem postpolitischen Zeitalter gelten keine gemeinsamen ideologischen und politischen Normen bzw. Konventionen mehr. Sie werden durch Fake News und Manipulation ersetzt, und zwar in einem Ausmaß, dass die Rhetorik die tatsächliche Realität außer Kraft zu setzen scheint. Das Schüren von Hass hat unsere Gemeinschaften zersplittert und jede Solidarität erfolgreich beseitigt. Verzweifelt suchen wir nach neuen Formen, neuen Zusammenhängen, um diese Art der Kommunikation zu begreifen. Und wir suchen nach Veränderungen, während die Welt vor unseren Augen zusammenbricht.
Lange leben Foren wie die springerin, die nicht allein der „Kunst als Investition, Kunst als Business“ dienen, Foren, die an die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst und Kultur glauben, die unsicheren und vagen Stimmen Schutz gewähren! Sie ermöglichen zumindest eine Teildiagnose unserer von Problemen zerrütteten Welt und gewähren heilsamen Stimmen leise ihren Raum. Sie greifen Vorschläge von Autor*innen auf, die vielfach ignoriert wurden, sie fördern die Solidarität mit sozial Ausgestoßenen und den neuen Generationen, deren Zukunft heute schon verkauft wird.
Wenn die springerin nach 30 Jahren und unter solch harten Bedingungen immer noch die Kraft hat weiterzumachen und ihren Mut nicht verloren hat, dann darf sie auch ein wenig feiern. Solche Feste müssen sein. Also feiert! Ihr seid nicht allein! Cheers!
Übersetzt von Thomas Raab
[1] Vgl. https://springerin.at/search/?q=edit+Andras.
[2] Englisch frei zugänglich auf https://springerin.at/en/2008/3/nachwirkungen/.
[3] Die Diskussion stand im Zusammenhang mit Transitland. Video Art from Central and Eastern Europe 1989–2009. Hg. von Edit András. Budapest: Ludwig Museum – Museum of Contemporary Art, 2009.
[4] Im Essay erwähne ich irrtümlich die documenta 2007 anstatt der Venedig Biennale.
[5] Fidesz kam erstmals bei den Wahlen 1998 an die Macht, und Viktor Orbán wurde Premierminister. Ihre Koalitionspartner waren das kleinere Ungarische Demokratische Forum und die Unabhängige Kleinlandwirte-, Landarbeiter- und Bürger-Partei.
[6] 2010 erreichte Fidesz bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit, ging zu einer national-konservativen Politik über, positionierte sich weiter rechts und wurde EU-skeptisch. Mit der Verabschiedung einer neuen ungarischen Verfassung im Jahr 2011 wurde ihre Macht weiter gefestigt, und so ist Fidesz in der vierten Legislaturperiode immer noch an der Macht.
[7] Englisch frei zugänglich auf https://springerin.at/en/2010/3/die-nationalismusfrage-ist-unausweichlich/.
[8] Siehe unter anderem https://budapestgaleria.hu/_/en/2015-exhibitions/private-nationalism-budapest/.
[9] https://springerin.at/2018/3/man-kann-nicht-zweimal-in-denselben-fluss-steigen-freilich-kann-man-das/
[10] Vgl. https://www.budapesttimes.hu/hungary/35534/.