Heft 4/2008 - Netzteil


Die Macht des Geistes über den Geist

Von der totalen zur verinnerlichten Überwachung

Amir Vodka


Laut Michel Foucault gab es bereits im 19. Jahrhundert ein »unendlich eng geknüpftes Netz der panoptischen Verfahren«. Im 21. Jahrhundert hat sich die Lage zugespitzt, und wir bewegen uns in Richtung einer »novus ordo seclorum« der allgegenwärtigen, alles sehenden totalen Überwachung. Spätestens seit dem so genannten »Krieg gegen den Terror«, dem amerikanischen Patriot Act, der es dem US-Ministerium für Innere Sicherheit erlaubt, Festanschlüsse, Mobiltelefone und das Internet anzuzapfen, über vier Millionen Überwachungskameras auf britischen Straßen, globaler Satelliten- und biologischer Überwachung (biometrische Daten) ist klar, dass die Vision einer neuen Weltordnung in Wirklichkeit die einer neuen globalen Massenüberwachung ist, die bis zur Molekularebene vordringt.

Schon im 6. Jahrhundert vor Chr. hieß es bei Sun Tzu in »Die Kunst des Krieges«, Kriegführung gründe auf Täuschung, auf der fortwährenden Erzeugung eines trügerischen Anscheins, der Verbreitung von Falschinformation und der Anwendung von Hinterlist und Betrügerei. Die logische Folge des Nichterkennbarseins sei das Ausfindigmachen des Feindes und das Sammeln detaillierten Wissens über ihn, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Nach Paul Virilio ist Kriegführung immer ein »Versteckspiel«. Armeen strebten stets danach, panoptische Positionen einzunehmen, um auf dem Schlachtfeld die feindlichen Linien einsehen zu können, ohne selbst gesehen zu werden. Das Gefängnismodell des Panoptikums, 1785 von Jeremy Bentham entwickelt, wird an militärische Technologien angepasst wie bei einer der neuesten amerikanischen Militärentwicklungen, dem RQ-4 Global Hawk, einem unbemannten Flugzeug, das zu Überwachungszwecken eingesetzt wird. Der pilotlose Global Hawk ist ein fliegendes Panoptikum, ein Auge in der Luft, ein allmächtiges, allsehendes Auge, das zu allen Tages- und Nachtzeiten und unter allen Wetterbedingungen arbeitet und dabei so konzipiert ist, dass es auf feindlichen Radarschirmen unsichtbar bleibt. Mit dem Bedürfnis nach mehr Sichtbarkeit geht schließlich ein größeres Bedürfnis nach Unsichtbarkeit einher: »So wie Waffen und Rüstungen im Laufe der Geschichte stets unisono entwickelt wurden, so bildeten nun auch Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eine Einheit und produzierten schließlich unsichtbare Waffen, die Dinge sichtbar machen – Radar, Sonar und die hoch auflösenden Kameras der Spionagesatelliten« (Virilio). Videoraketen, Dronen und andere militärische Überwachungssysteme wurden entwickelt, um Echtzeitinformationen über den Feind zu gewinnen. Laut Virilio löschen diese rasanten Veränderungen realen Raum zugunsten realer Zeit aus, das heißt, die militärische Überwachung erreicht ihre totale Phase der globalen Vision, wodurch geografische Entfernungen unwichtig und direkt in Informationsfeeds komprimiert werden (Live-Fernsehen, das mittlerweile selbst schon einen globalen Überwachungsapparat darstellt, funktioniert nach dem gleichen Prinzip).

Totale Überwachung
Bei seiner Verteidigung des Patriot Act erklärte US-Präsident Bush die Notwendigkeit von Abhörmaßnahmen durch einen Vergleich mit Erfahrungen der Polizei: »Mobile Abhörmaßnahmen sehen so aus: Sie werden hauptsächlich bei Drogenbossen eingesetzt. So ein Kerl, einer von den intelligenteren Drogenbossen, hat ein Telefon, und früher konnte man das einfach abhören. Und jetzt raten Sie mal, was der gemacht hat. Er hat sich ein neues Telefon besorgt, besonders seit es Handys gibt. Und so wechselt er ständig die Telefone und machte es der Drogenfahndung sehr schwer, die Kerle, die unsere Straßen verpesten, abzuhören und hochzunehmen.« Für Bushs Verstärkung des US-Ministeriums für Innere Sicherheit wurden militärische Gründe geltend gemacht, es sollten Echtzeitinformationen über den Feind gesammelt werden: »Die Behörden müssen sich auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene besser koordinieren als je zuvor. Informationen müssen in Echtzeit fließen.« Solche Bemerkungen sind keine bloßen Metaphern aus Polizei- oder Armeediskursen, sie zeigen vielmehr, wie sehr sich das Wesen der Überwachung verändert hat. Bestand das Hauptziel der militärischen Überwachung im Ausmachen feindlicher Stellungen und war das Gefängnis-Panoptikum darauf angelegt, die versteckten, dunklen Ränder der Gesellschaft ans Licht zu bringen, so sehen wir heute eine Überwachungspraktik, die auf das Zentrum gerichtet ist, auf die Gesamtheit der BürgerInnen, die somit alle schon im Voraus als potenzielle FeindInnen oder VerbrecherInnen betrachtet werden.

Eine solche Situation schildert der Film »Staatsfeind Nr. 1« (Tony Scott, 1998), in dem ein unschuldiger Familienvater (Will Smith) in einem Netz panoptischer Systeme gefangen ist, die nach und nach jeden Aspekt seines Lebens durchdringen. Er wird von Sicherheitskameras, Videoüberwachungsanlagen und Satelliten erfasst, die mit molekularer Auflösung aus dem All auf das Logo seines Kugelschreibers zoomen können; wann immer er seine Kreditkarte oder sein Mobiltelefon benutzt, orten ihn die Computer der NSA (Nationale Sicherheitsagentur). Der totalen Überwachungsgesellschaft bleibt nichts verborgen. Wie das Gefängnis-Panoptikum, das wie eine geheime Struktur um die VerbrecherInnen herum gebaut wird (und ihre verborgensten Leidenschaften und Perversionen ans Licht bringt), verfolgt die totale Überwachung das Subjekt wie ein Geheimnis, das ständig nach mehr Inspektion verlangt, um verborgene Tatsachen zu enthüllen. Als Lösung bietet der Film den privaten Einsatz von Überwachungstechnologie – eine zufällige private Kameraaufzeichnung des Mordes an einem Politiker durch die NSA befreit den Protagonisten aus dem Klammergriff der totalen Überwachung. In neueren Filmen wie »Redacted« (Brian De Palma, 2007) oder »Diary of the Dead« (George A. Romero, 2007) werden private Kameras und YouTube zu einer neuen Hoffnung für die Umkehrung dieser Entwicklung. Wird jedoch das Private öffentlich wie in »The Truman Show« (Peter Weir, 1998), scheint diese Lösung wenig nahe liegend. Der Film beschreibt das Leben eines Mannes (Jim Carrey), der ohne sein Wissen in einer Reality-TV-Show lebt. Sein vermeintlich typisch amerikanisches Wohnviertel ist in Wirklichkeit ein komplett überwachtes Gelände, von dem aus sein Leben live in die Wohnzimmer von Millionen von Menschen im ganzen Land übertragen wird. Der Film symbolisiert das Ende des zentralisierten Überwachungsblicks und dessen Zersplitterung in Millionen von Kleinfamilienzellen, die nun die Funktion der vielen Gefängniswachtürme übernehmen. Dabei ist Carreys Situation potenziell auch deren eigene – und auch unsere –, können doch in ihren Kleinfamilienzellen alle beobachten und beobachtet werden.

Heiße und kalte Medien
Marshall McLuhan unterscheidet zwischen »einem heißen Medium wie Film und einem kalten wie Fernsehen«. Heiße Medien erweitern lediglich einen Sinn in »hoher Auflösung« (so wie auch frühe FilmwissenschaftlerInnen das Kino als etwas betrachteten, das vor allem das Sehen betonte und erweiterte) und sind ausschließend, das heißt, sie kontrollieren die ZuschauerInnen und geben ihnen keine Möglichkeit der Beteiligung (man kann einen Film im Kino nicht anhalten oder zurückspulen, wie man will, sondern muss sich seinem linearen Verlauf unterwerfen). Kalte Medien hingegen sprechen mehrere Sinne an und sind einschließend, das heißt, sie ermutigen die ZuschauerInnen zur Partizipation. McLuhan führt weiter aus, heiße Medien seien Erweiterungsmedien, die überall auf der Welt explodiert seien, bis sie durch die kalten, postmodernen Technologien, die eine nach innen gerichtete Implosionsbewegung schaffen, einen Umkehrzustand erreichten (daher auch McLuhans berühmte Sicht der Welt als »globales Dorf«). Neue Überwachungstechnologien wie die des Reality-Fernsehens beziehen das Publikum in seine eigene Überwachung mit ein, eine kalte Überwachung, die einen Implosionszustand erreicht. Gekennzeichnet wird diese neue Phase von zwei grundsätzlichen Bewegungen in Zeit und Raum: Echtzeit wird zu zukünftiger Zeit; und der überwachte Raum verändert sich von einer Struktur mit einem zentralen Beobachtungspunkt zu einer zentrumslosen Struktur, in der jeder Punkt für sich als Zentrum fungieren kann, bis das System das letzte Stadium der Verinnerlichung erreicht.

Diese räumliche Bewegung wird deutlich in »Disturbia« (D. J. Caruso, 2007), einem zeitgenössischen Remake von Hitchcocks »Fenster zum Hof«, ein Film über einen Teenager, der den Sommer über Hausarrest hat. Das buchstäblich zur Familiengefängniszelle gewordene Haus fungiert gleichzeitig als panoptisches Zentrum, von dem aus der gelangweilte Teenager die Nachbarschaft ausspioniert (und irgendwann entdeckt, dass ein Mörder darunter ist). Alle BürgerInnen werden nun gleichzeitig zu Gefangenen und zu GefängniswärterInnen, ausgestattet mit privaten Überwachungsgeräten wie Video- und Handykameras, die es ihnen erlauben, am »Krieg gegen das Verbrechen« oder dem »Krieg gegen den Terror« teilzunehmen. Die zeitliche Bewegung zeigte sich schon in »Minority Report« (Steven Spielberg, 2002), in dem die Polizei zukünftige Verbrechen vorausahnt und Leute für etwas einsperrt, das sie zu tun beabsichtigen.

Der »Präventivcharakter« des Gefängnis-Panoptikums ist bis in die totale Überwachungsgesellschaft vorgedrungen. In dieser wird Wissen über uns, das mit Hilfe von Echtzeit-Überwachungstechniken wie beispielsweise Retina-Scans gewonnen wird, direkt mit früheren Erkenntnissen über uns abgeglichen, verarbeitet und dazu genutzt, nicht nur unsere Finanzkraft (personalisierte Werbung) zu extrahieren und uns einzuordnen (»gute StaatsbürgerInnen« – keine TerroristInnen), sondern auch, unsere zukünftigen Käufe oder Verbrechen vorauszusagen. Echtzeit beschleunigt auf Zukunftszeit. Die militärische Reaktionszeit, die laut Virilio durch technologische Voraussicht und Antizipation kontinuierlich reduziert worden ist, hat die Privatsphäre erreicht, wie Präsident Bush erklärt: »Nach dem 11. September habe ich dem Justizministerium und dem FBI gesagt, euer Job, euer Hauptaugenmerk ist nun die Verhinderung von Anschlägen. Natürlich sollt ihr weiterhin Verbrecher jagen, das wird ja schließlich von euch erwartet. Aber weil das, was am 11. September geschehen ist, uns zum Umdenken zwingt, besteht euer Job nun darin, Anschläge zu verhindern.«

Zukunft der Überwachung
Die weltweite Explosion von Panoptikum-Verfahren hat inzwischen die Schwelle der Implosion erreicht. »A Scanner Darkly – Der dunkle Schirm« (Richard Linklater, 2006) basiert auf einem Science-Fiction-Roman von Philip K. Dick und zeigt die Zukunft der Überwachung in ihrem letzten Stadium, der Verinnerlichung. Der Protagonist des Films (Keanu Reeves), ein verdeckter Drogenermittler, der selbst drogensüchtig ist, kämpft im »Anti-Drogen-Krieg« (sowohl die Drogen als auch der »Anti-Drogen-Krieg«, so finden wir bald heraus, gehen auf das Konto derselben unternehmerischen Kräfte). Im Dienst trägt er einen seine Identität verschleiernden »Scramble Suit«, konzipiert für urbane Überwachung und Camouflage. Der Anzug, der den Körper und Kopf völlig bedeckt, projiziert auf seine Oberfläche Millionen von fragmentierten Körperteilen von Menschen aller Hautfarbe, jeden Geschlechts und Alters. Er ist quasi ein mobiles Panoptikum, ein Überwachungsanzug, der ihm erlaubt, unsichtbar zu bleiben (ihn sieht man nur als »Dauerunschärfe«). Und doch sieht er nicht unbedingt alles, was auf seinen Anzug projiziert wird – so wie die GefängniswärterInnen den Wachturm des Panoptikums nicht unbedingt besetzen müssen, um den Insassen das Gefühl zu geben, beobachtet zu werden, oder wie Videoüberwachungskameras in den Straßen uns zu »gutem Benehmen« veranlassen, ohne dass jemand dahinter steht.
»Eine neue und in bislang beispielloser Quantität angewandte Methode, um die Macht des Geistes über den Geist zu erlangen« (Jeremy Bentham): Allein der Blick reicht aus, uns zu fixieren. Auch hier ist keine Zentrum-Peripherie-Struktur nötig – alle stellen ein potenzielles Zentrum der Überwachung dar (und tragen Identität verschleiernde Anzüge; der Protagonist sind quasi wir alle) –, aber gleichzeitig werden alle beobachtet. Die permanente, alles durchdringende Überwachung führt zu einem Zustand der Schizophrenie, in dem der Protagonist schließlich gebeten wird, sich selbst zu überwachen. Das ist längst keine Situation mehr, die man als Big-Brother-Überwachung bezeichnen würde. In Orwells »1984« besitzt der Staat externe Überwachungsapparate, die dem Subjekt Raum lassen, einen freien Willen zu entwickeln und sich zu wehren. In der heutigen Situation hingegen wird die physikalische Ausrichtung des Panoptikums ausgelöscht und verinnerlicht. Die komplette physische Struktur des Wachturms hat sich in unsere Köpfe verzogen: Wir sind zu unseren eigenen Gefangenen geworden.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

Verwendete Literatur:
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Franz. von Walter Seitter. Frankfurt am Main 1994.
Jeremy Bentham, The Panopticon Writings. Hg. v. Miran Bozovic. London 1995.
Paul Virilio, War and Cinema: The Logistics of Perception. London 1989. (Dt. Ausgabe: Krieg und Kino. Frankfurt am Main 1994).
Sun Tzu, The Art of War. Übers. v. Ralph D. Sawyer. Barnes & Noble 1995.
George W. Bush, Information Sharing, Patriot Act Vital to Homeland Security, Bemerkungen des Präsidenten in einem Gespräch über die Bedeutung des US Patriot Act für die innere Sicherheit der USA in der Kleinshans Music Hall, Buffalo, New York, am 20. April 2004, veröffentlicht auf der Website des Weißen Hauses.
Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man. Cambridge, Mass. 1994 (Dt. Ausgabe: Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Hg. v. Mannheim 1997).

Mein besonderer Dank gilt Dr. Michael Wedel vom Institut für Medienwissenschaft der Universität Amsterdam.