Heft 2/2009 - Modell Labor Tanz


Tanz/Ohn/Macht

Figuren der Behauptung in der Bewegung (Philipp Gehmacher)

Franz Anton Cramer


Tanz/Wissen
Die Entdeckung und die hymnische Feier des Tanzes, zumindest dessen, was wir als modernen künstlerischen Bühnentanz bezeichnen können, fallen in eine Zeit, als man der Rhetorik und der Sprache allgemein wieder einmal im Namen des Unsagbaren gründlich misstraute. Der Tanz nach 1900 sollte eine Wahrheit, zumindest aber eine Wahrhaftigkeit verbürgen, welche die Sprache in ihrem rhetorisch verkrusteten System nicht mehr zu erfassen imstande war.

Das Wissen von sich, von der Welt, von der Wahrheit als etwas letztlich Undurchdringliches, dieses Wissen war in den kristallenen Gefäßen der Begriffskultur nicht mehr angemessen zu kredenzen. Es sollte stattdessen eine geschmeidigere, eine durch und durch materielle Form für diese Wahrheit(en) und diese besonderen Strömungen oder Verzweigungen des Wissens gefunden werden. Diese Form hätte die Kunst beizusteuern; vor allem aber der Tanz.1

Was sich im Tanz aber tatsächlich materialisierte, war eine Art subliminale Sprachlichkeit, eine Rhetorik der Sinne, die auf dem Wege der Kritikerdiskurse und der sekundären Phänomenologie – des Austausches über die Wahrnehmung – wieder in das System des performativen, des schöpferischen Sprechens überführt werden konnte. Die Tanztheorie dieser Zeit legt hiervon beredtes Zeugnis ab.2

Es lag der Frühzeit jener kulturellen Erscheinungsform, die wir heute unter »Tanz« zusammenfassen, damit eine Auffassung zugrunde, welche den Tanz als eine Art Sprachverlängerung definierte und festschrieb. Dort, wo die Sprache im Künstlerischen, Kulturellen, Gesellschaftlichen anscheinend versagte, kam die Bewegung mit ihrer Sinnesrhetorik und sollte dem sprachlichen Vermögen wieder auf die Sprünge helfen. Was ja auch gründlich gelang: Selten hat das deutschsprachige Schrifttum so viel pirouettiert wie in den ersten zwei Dekaden des vergangenen Jahrhunderts, als der (Ausdrucks-)Tanz seinen Weg in die schöngeistige Literatur und die Feuilletons fand.3

Was die Tänzerinnen (und die gelegentlichen Tänzer) nach 1900 vermochten, war aber statt eines Aufbruchs zu neuen Ufern, wie es der utopische Zierrat der Tanzmoderne so dringend nahelegt, eigentlich eher ein Recycling, eine Bestätigung der (männlich erlebten) Sprachkrise, deren Muse die Tänzerinnen wurden (Frauen müssen anscheinend immer Musen sein). Je mehr Sprachkrise, desto mehr Tanz; und je mehr Tanz, desto mehr seliges Lallen der Diskurspatriarchen, also desto mehr Sprachgewalt und natürlich letzten Endes auch wieder desto mehr Sprachkrise. So pompös mithin die zeitgenössische Rhetorik in puncto Erlösung und Lockerung des Starren, von Neuerfindung der Kultur und Erweckung nationaler »gymnischer Körperkräfte«4 auch gewesen sein mag, es blieb doch weithin die große Hierarchie unangetastet: Bestehende Formen des (sprachlichen) Austausches sind primär, andere werden – wenn auch unter dem Rubrum des Originären, des Urtümlichen, des Runderneuerten – ergänzend bzw. als Hilfestellung, als Stichwortgeber gern hinzugezogen. Damals wie heute herrschte dabei das gleichermaßen dringliche Bedürfnis, dem seltsamen Ding Tanz durch Begriffe und Definitionen plausible und nutzbringende, gleichsam rhetorisch artikulierte Grenzen zu setzen. Tanz durfte immer nur Weg und vielleicht auch Umweg sein, aber niemals das Ziel. Darüber diskursiv hinwegzutäuschen ist vielleicht die verblüffendste Leistung des »deutschen Tanzes« der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Tanz und »Tanz«
Dieses eigenartige, gleichsam doppelte Schicksal einer rhetorischen Zurichtung zeichnet »den Tanz« bis heute aus. Die Schwierigkeit, im Sprechen über Tanz nicht nur den richtigen Ton nicht zu verfehlen, sondern das Falsche nicht zu sagen, um stattdessen das Richtige in den Blick zu nehmen, geht zweifellos noch auf diese Scheidelinie zurück. Tanz muss sich, wie auch hier und heute, immer wieder in sprachlichen Kontexten behaupten; Kontexte, die ihn ständig und permanent in ihre Funktions- und Diskurssysteme, in ihre Praktiken und Zurüstungen eingliedern, kurzum: die ihn zu ihrem Material machen wollen. Und die es auch müssen – das ist ja ihre Aufgabe.

Es muss über Tanz gesprochen werden, will man nicht im bloßen auratischen Erleben verharren und damit wiederum das kommunikative Potenzial des Tanzes übergehen, verharmlosen, klein halten. Aber der Tanz ist niemals bloß Material und schon gar nicht das irgendeines Kommentators. Denn Tanz ist immer nur das, was gar nicht da ist. Und was es nicht gibt, kann auch nicht materialisiert, kann nicht festgehalten, nicht dingfest gemacht werden. Tanz ist immer nur das, was als Praxis behauptet wird; was gleichsam als rhetorische Bewegung sich darbietet, ohne sich mit einem Begriff oder einer Aussage, mit einer Kategorie oder einer Logik, einer Sinnstruktur oder einem Bedeutungsgerüst zu behaften. Die Behauptung des Tanzes – und damit eben seine zutiefst rhetorische Bewegung – ist, dass er den Ort der Sprache niemals bedienen muss, niemals in den Ort der Sprache einkehren muss. Das heißt aber nicht, dass er sich deshalb von dessen Macht, von der Macht der Sprache lossagen würde, um irgendein schimärisches »anderes Reich der Bedeutung«, eine diffuse und pathetische »Universalität« oder »Grenzenlosigkeit« zu reklamieren. Viel eher liegt in den gestischen Möglichkeiten des Tanzes, jenes phänomenologisch so unsicheren Faktums, das Gegenteil solcher Universalismen: Wenn die Möglichkeit zu tanzen nur in der Fähigkeit und im Akt des Tanzens erscheinen kann, dann wird diese beständige Verwirklichungsnotwendigkeit zu einer Grundbedingung. Zu dieser Grundbedingung aber zählt die Vielfalt, die Einzelheit, das Individuelle. Denn nur im einzelnen Akt der Aneignung, der Übersetzung, der Ver-Wirklichung erfüllt sich das definitorische Ganze. Indem Tanz getanzt werden muss (wie auch immer dieses Tanzen aussieht), und dieses Getanzt-Werden nur durch individuelle Akte, durch An-Eignungen, durch die Verbindungen des Allgemeinen (Begrifflichen, Definitorischen) mit dem Individuellen (dem Artikulatorischen, dem Gestischen, dem Einzelkörperlichen) erfolgen kann, ist eine Vielheit des Phänomens Tanz und seiner ihn konstitutierenden Gesten und Beweglichkeiten konsubstanziell, unhintergehbar. Es kann offenbar keinen Tanz jenseits der Gesten geben, in denen er gedacht, verwirklicht und materialisiert wird. Diese Vorgänge der Realisierung fügen sich zu seiner Rhetorik, zu seiner Wirksamkeit.

Offenheit
Gerade aus dieser Struktur – Definition und Offenheit, Verwirklichung und Potenzialität – entsteht aber das Hauptproblem des Tanzes. Denn dessen grundlegendes Dilemma ist, auch im zeitgenössischen Kontext, noch längst nicht gelöst. Der Tanz unterliegt in seinen (kinästhetischen) Erscheinungen immer noch einem prästabilierten Geschmacksdiktat, einer hierarchischen Normativität, einer allgemeinen Urteils- und Begriffskultur, die gerade jene Zwischenräume möglichst grell ausleuchten will, die der Tanz als eigenen Ort jenseits des Fixierten und Konsumablen, des Konsensfähigen und Marktgängigen für sich erobert.

Aber wenn Tanz sich eben mit jedem choreographischen Statement, mit jeder tänzerischen Idee, mit jeder Verwirklichung im Aufführungsmoment neu erfinden muss, ist ihm damit zugleich aufgegeben, sich gegen alle Einfriedungen und Verfestigungen zu behaupten. Er kann, um seine eigenen Gesten zu realisieren, weder von seinem gefälligen Wiedererkennungswert leben noch von seiner sinnlichen Esoterik, sondern er muss vom souveränen Umgang mit der Mitteilungsfunktion leben. Diese Mitteilung aber ist, wie in der Rhetorik, immer auch ein Hauptteil der Mitteilungsart und -weise. Vielleicht ist dieses Unauflösbare des Tanzes ja sogar seine eigentliche Natur. Vielleicht muss Tanz in dieser Hinsicht grundsätzlich unzugänglich, unteilbar, unbegreiflich bleiben. Er ist niemals das, was man darüber zu sagen hat, und er ist zugleich niemals unabhängig von dem, was dazu zu sagen ist.

Gestalt und Bewegung
Bewegung geht immer weg von ihrer eigenen Behauptung, die sie doch zugleich in ihrem eigenen Vollzug immer wieder aufstellt: die Behauptung der Gestalt. Wie aber soll etwas so Prozesshaftes, Performatives und Unbestimmtes wie die Bewegung dem Begrifflichen gegenübertreten? Wie sollen die Gesten in ihrer strukturellen Offenheit den Festlegungen ihres Bedeutens begegnen?

Das ist der Moment, um endlich auf die zentrale Figur dieser Begegnung zu sprechen zu kommen. Philipp Gehmacher hat sich diesen verzwickten Begegnungen von Bewegung (Geste) und Kontext, von Rhetorik und Austausch, oder eigentlich eher von Rhetorik und Aufhebung, von Wirkungskalkül und von etwas gestellt, das ich jetzt noch nicht benennen möchte.

Tanz verkörpert(e) schon in »Holes and bodies« und »Good Enough«, dann in »mountains are mountains« nicht mehr die Ganzheit des Selbst und des Leibes bzw. des sich im Leib entäußernden Selbst. Tanz war zu etwas geworden, das eigentlich überhaupt nicht für eine Ganzheit, für etwas Integrales und Eigenständiges stehen kann. Tanz erscheint als ein gewesenes Kontinuum, das immer wieder in seine partikularen Momente zerfällt. Schwung oder Dynamik, Geste und Gebärde sind nicht mehr Ausdruck eines einheitlichen Zustandes der (Selbst-)Wahrnehmung oder der souveränen Sinn-Gestaltung. Sie sind Behauptungen im gleichen Maße, wie sie ihre Form immerfort widerrufen; oder besser: aus dem beständigen Widerruf heraus entwickeln. Im Versuch, die Festigkeit aller Definition zu verflüssigen und das Unverrückbare des tänzerischen Einmaligkeitsmomentes zu bewegen und diese Bewegung zur gemeinsamen Aussage zu gestalten, zur künstlerischen Positionsnahme und zur Grundlage einer Verständigung – in diesem Akt sehe ich den Kern von Gehmachers Tanz.

»incubator«
Dieser Kern findet sich auch in »incubator« wieder. Viele Motive wirken bekannt: die langen, atmenden, verlorenen Sequenzen von Einzel- und Gruppenbewegungen; die kleinen, kompakten, minimalisierten Regungen vor allem mit den Armen und im Nacken, Kopfdrehungen, die Blickwechsel, das Verlorene der Schritte. Die Bewegungen zwischen Selbstberührung und Außenkontakt, die parallele Suche nach einer »Normalität«, einer Unaufgeregtheit der Bühnenpräsenz und zugleich einem angespannten, bisweilen tremolierenden Ausstellen des eigenen Seins. Die Sphären der gestischen Behauptung und der sprachlichen Rhetorik sind sauber getrennt: Der Lautsprecher mit seinen entstellten, verzerrten, abgehackten, bellenden, säuselnden Stimmen und Dialogausschnitten gibt seine eigenen Atmosphären vor; manchmal nähern sich die Tänzer diesen Atmosphären an, betasten gleichsam das Gefühl, das Pathos eines Liebesliedes oder von einsamen Schritten auf knirschendem Untergrund. Aber wie die Gebärden selbst sind auch diese Empfindungen fremdartig und äußerlich. In beinahe brutalen Schnitten werden sie unterdrückt: Der Lautsprecher verstummt, die Nähe wird aufgehoben. Das gilt aber auch für die Arbeit an der Bewegung selbst und ihren Parametern. Man sieht immer wieder eine Art Antiimpuls sich ereignen: Der Arm wird mit Schwung ausgestreckt; dem folgt nach kurzem Verharren ein Verschrumpeln dieser Bewegung; als ergreife den Akteur eine Bestürzung über seinen kinetischen Ausbruch, folgt ein hektisches Zurücknehmen der ersten, klaren Linie. In zerfahrenen, einwärtsdrehenden Schraubungen, die den ganzen Rumpf verwickeln, verschwindet der in den Raum hinausgeworfene Arm und die Idee der Tanzbewegung selbst wird gleichsam zerknüllt. So wird die Unabhängigkeit der Geste, der tänzerischen Bewegung von ihrem Kontext – er sei musikalisch, szenisch oder dynamisch – immer wieder fast schmerzlich behauptet. Stellt sich trotz aller gewahrten Distanz der einzelnen Komponenten voneinander das Gefühl von Nähe ein (bei einer sentimentalen Musik, beim leichten Aufsieden eines Gefühls, beim Anflug der Rührung, beim betastenden Wahrnehmen des Anderen, im langen, absichtslosen Blick), dann wird ein Bruch gesetzt, die Musik ausgeschaltet, das Kontinuum unterbrochen. Und doch bleibt eine Verbindung bestehen, ein schönes Strömen, eine durchkomponierte Gesamtheit der einzelnen Regungen. Dieses Motiv »Tanz ist Komposition des Einzelnen als Gemeinsames« tritt in »incubator« noch klarer hervor. Die Vielheit der möglichen Bewegungen, der plurale Chor der Bewegung bleibt doch in einem Zusammenhang eingeordnet, der aber eben nicht autoritativ bestimmt, sondern in einer Art Zwischenraum aufgehoben ist. Hier, so schreibt Peter Stamer in den dramaturgischen Notizen, »übersteigt das Wissen der Gruppe die Einzelperspektive«; es ist die Aufführung immer mehr als der einzelne Beitrag. Zugleich aber ist »die Geste«, jener verstörende, sperrige und eben auch so freie, offene Umgang mit der individuellen Bewegung, »die Unterscheidung von Sinn und Sinnlichkeit, ohne sich einer Seite zuschlagen zu müssen«. So betrachtet anscheinend im Tanz jeder Tänzer selbst das Verschwinden, die Auflösung aller Bewegung. Wir werden Zeugen eines Verdämmerns des Tanzes in jenem Stillstand, der jeder Bewegung vor- und nachgeordnet ist. Wie normal kann und darf man in diesem sich selbst auslöschenden Kontinuum sein? Wenn die Bewegung als Gebärde nach ganz anderen Maßstäben entwickelt und ausgeführt wird als die herkömmliche technische Bewegung, die Bewegung des Tanzes, jene performative Vollzugsäußerung (»Schaut her, ich tanze«), was bleibt dann zwischen Normalität und Kunst, zwischen Ausführung und Aufführung? Diesen Zwischenraum der Geste, der autonomen Bewegung in einem komplexen, gleichwohl aber geschützten Kontext (dem Kontext der Aufführung nämlich), benennt das Programmheft: »Ihre [der Geste] Kommunikation liegt vielmehr in dem Zwischenraum, dem Abstand, den sie zwischen sich und die anderen Körper aufzieht. Sie teilt durch sich die Grenze der Kommunikation selbst mit.« Der Umgang mit dieser Form von Autonomie aller gegen alle – der Bewegungen gegen die Musik, der Darsteller gegen ihre Bewegungen, der Bewegungen zu Raum und des Raums zum Tanz – führt, fast zwangsläufig, zu einer solistischen Grundstruktur, in der jeder Einzelne den Bogen von sich zur Gesamtheit zu spannen versucht. Und zu dieser Gesamtheit zählen wir als ZuschauerInnen auch.

Schluss
Es ist dem rhetorischen Aufbau dieser Ausführungen nur zum Teil geschuldet, dass ich weiter oben eine Leerstelle gelassen habe. Ich wollte den dort einzutragenden Begriff nicht vorschnell verbrauchen. Denn es ist in gewisser Hinsicht ein Begriff, der viel zu weit greift.

Dennoch denke ich, dass die im Tanz, in Gehmachers Tanz gegebene Verbindung aus Rhetorik und Aufhebung, von Kalkül und eben von Freiheit eine Dimension eröffnet, die über das Kunsthafte weit hinausweist. Denn die Art und Weise, wie Gehmachers Einkreisung des lebendigen Austauschs, wie seine eigenartig gehemmten, bestürzten, aufgehobenen Gesten und Gebärden, die das Problem des Austausches vom performativen Verhältnis (vom bloßen Aus- und Vorführen) ins partizipative Verhältnis transformieren oder erweitern, also in die Erlebnisart des Geschehens; diese Art und Weise also, in der bei Gehmachers choreografischem Tun die Machtverhältnisse verkehrt und die normativen Instanzen in einen Raum integriert werden, in dem ihnen ihre Macht verfliegt, in dem sie aufgehoben ist – dadurch und in diesem Moment erhält der Tanz bzw. verteidigt der Tanz seine ganze phänomenologische Sicherheit, ja Geborgenheit in sich selbst und im darstellerischen Dispositiv der Bühne. Die Rhetorik der Bewegung als Aufhebung der bloßen Form unterliegt in Gehmachers Recherchen nicht mehr einem hierarchischen Verhältnis. Tanz substituiert nichts – keine Sprache, keinen Schauwert, keine Innerlichkeit, keine anderweitig gegebene Wissenskultur –, sondern Tanz hat sich von bestimmten Beengungen ganz einfach befreit. Befreit, um stattdessen jenen opaken, eigenwertigen Raum der choreografierten Offenheit als individuelle Freiheit zu betreten, in dem körperlicher, gestischer, dynamischer Austausch sich ereignet. Ist man aber in diesem Raum des Austausches oder auch in diesem Austausch als Raum erst einmal angelangt, sind all jene Antinomien (etwa von Darstellbarkeit und Eigenwert, Definition und Entgrenzung, von Marktwert und Schauwert, etc.) außer Kraft gesetzt, die dem Tanz sonst zusetzen. Statt einer Rhetorik der ästhetischen Überwältigung, statt der Erfüllung von Normen, die Geschmack, Markt oder Diskurse unablässig setzen und als begriffliche Gitterstäbe gleich einem Manegengang zum Raubtierkäfig dem Tanz auf seinem Weg in die Öffentlichkeit zur Seite rammen, statt all diesem wird ein Ort des Möglichen definiert. Er ist bewohnt von jener gestischen Artikulationsweise (die mehr und anderes ist als Sprache), die das Rhetorische zugleich unterläuft und braucht. Von einer Artikulationsweise also, in der ein Moment des sinnlichen Erlebens, der Fülle und Evidenz, ebenso aufgehoben ist wie das notwendige Wissen; denn keine Evidenz ohne vorgängiges Wissen; kein Tanz ohne Kenntnis seiner Bedingungen. Gehmachers Choreografieren, so wie ich es verstehe, versucht, das ewige, das schicksalhafte Gegenwartsmoment des Tanzes aufzubrechen, ihm seine Vorläufigkeit und Selbstgenügsamkeit auszutreiben, um ihm eine andere, eigene, gelenkte Aussagekraft zurückzugeben. Somit wäre also das Nicht-Existente, das Unbeständige, das gar nicht Seiende des Tanzes unversehens ins Zentrum der Macht – der Sprache, der Rhetorik, der Beeinflussung – eingedrungen und hätte hier, und hier vor allem, zu Regung, zu Auf-Lösung geführt: In dem Moment, wenn die Bewegung von Innerlichkeitspostulaten erlöst wird, ermöglicht sie neue Arten der Mitteilung. Was als ohnmächtige und den sprachlichen Strukturen restlos unterworfene Form begonnen hatte, wird damit im Zeichen des Austauschs zu einem Moment der Subversion und der Entmächtigung. Der Tanz ergreift und behauptet gerade in seiner opaken Artikulations- und Mitteilungskraft als körperliches Medium der gestalthaften Aussage, des »ewigen Übergangs« von einer Form zur anderen, von der Erscheinung des Einen im Vielen und des Vielen im Einen jene Macht, die ihn in der kristallinen Starre der Sprachkultur einmal hatte zum Gesinde machen wollen. Im Zeichen der reinen Möglichkeit ist der Tanz über seine bloßen Bewegungen hinausgewachsen. Er hat das Wissen von sich zu einer Geste der Begegnung gemacht. Dafür ist Philipp Gehmacher zu danken.

Gekürzte Textfassung eines Vortrages, gehalten im Rahmen der Theoriereihe »Gesten. Zur Un/Lesbarkeit von Bewegungsfiguren«, Tanzquartier Wien 2004/2005.

 

 

1 Die Choreographin und Filmemacherin Yvonne Rainer hat diese Stimmung mit Blick auf das Wien der Secession unlängst in einer kongenialen Bildchoreographie anschaulich gemacht: »After many a summer dies the swan. Hybrid« (2002).
2 Constanze Klementz hat das in ihrer materialreichen Arbeit »Nietzsches Aufforderung zum Tanz« profund dargestellt: Constanze Klementz, Nietzsches Aufforderung zum Tanz: Ein Philosoph im Blick deutscher Tanztheorien nach der Jahrhundertwende. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Berlin: Freie Universität 2002.
3 Und Sie bemerken ja, dass auch ich mich eines rhetorischen Pointillismus nicht enthalten kann.
4 Vergleiche etwa Georg Fuchs, Der Tanz (Flugblätter für künstlerische Kultur, Band 6). Stuttgart: Strecker & Schröder 1906.