Heft 2/2009 - Netzteil


Wie sich vor dem Epischen schützen?

Zeitgenössische mediale Artikulationen der Megalopolis Kairo

Nat Muller


Die Beschreibungen der zeitgenössischen Kunstszene Kairos aus institutioneller Sicht sind vielfältig, ob aus der Perspektive öffentlicher oder privater Institutionen, staatlicher Museen, kommerzieller Galerien oder gar auslandsfinanzierter Institutionen. So hat die Kluft zwischen öffentlich finanzierten und sogenannten unabhängigen AkteurInnen mittlerweile ein Milieu geschaffen, das zwar klein aber dennoch ziemlich zersplittert ist. Ich möchte jedoch nicht weiter auf die verschiedenen Rollen und Grabenkämpfe der betreffenden Institutionen eingehen, sondern mich vielmehr darauf konzentrieren, wie sich in Kairo lebende KünstlerInnen innerhalb oder in Anbetracht dieser Situation positionieren. Wie kommen sie beispielsweise mit Kairos womöglich ältester und erdrückendster Institution klar: seiner Vergangenheit – mit der Last einer epischen pharaonischen Geschichte und dem gleichfalls epischen Traum von einer panarabischen Modernität und Unabhängigkeit, personifiziert durch den charismatischen zweiten Präsidenten der Republik Gamal Abdel Nasser (1956–1970)? Nicht zu vergessen die Standardvorstellungen, die Kairo im Westen heraufbeschwört, abgegriffene Postkartenbilder vom »Orient«: Pyramiden, Mumien, Kamele und Basare. Alles Referenzen aus vergangener Zeit.

Wie also sieht eine zeitgenössische Artikulation in dieser und über diese Megalopolis zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Und wie schwingt diese Gegenwärtigkeit in der künstlerischen Praxis mit? Nicht nur, dass die KünstlerInnen unter der Last der historischen und national(istisch)en Repräsentation leiden, in der Auseinandersetzung mit der internationalen Kunstwelt sind sie zudem einem Phänomen ausgesetzt, das die ägyptische Wissenschaftlerin Dina Ramadan als »Objektifizierung der KünstlerInnen«1 bezeichnet. Ramadan ist der Ansicht, dass nichtwestliche KünstlerInnen – in diesem Fall ägyptische – ihrer Individualität beraubt werden und »dem Kollektiv« (dem Arabischen, dem Muslimischen, dem Ägyptischen, dem Afrikanischen, dem Anderen) als Sprachrohr dienen müssen, wobei sie noch dazu einen ständigen Spagat zwischen der Darstellung von genügend »Modernität« und »Authentizität« zu vollführen haben.

Eine Künstlerin, die die Politik des Bildermachens zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit gemacht hat, ist die ägyptisch-libanesische Fotografin Lara Baladi. Vor allem ihre frühen Fotocollagen »Oum el Dounia« (Mutter der Welt, 2000) und »Sandouk el Dounia« (Kasten der Welt, 2001) bringen unsere visuellen Darstellungssysteme zum Ex- beziehungsweise Implodieren. Beide sind das Negativ des jeweils anderen, wobei Erstere ein Gegengewicht zu den Vorstellungen von der Wüste als leerem Raum bildet. Baladi bevölkert die ihre mit einer Mischung aus westlichen Märchenfiguren und stereotypen ägyptischen Referenzen, wie etwa der Sphinx. Die spielerische und fantasievolle Arbeit ist eine machtvolle Geste der Wiederaneignung orientalistischer sowie westlicher Bilderwelten. »Sandouk el Dounia« illustriert dagegen die dunklen und beengten Grenzen des urbanen und technologischen Raums. Hier bevölkern mangaähnliche Kreaturen eine erotisierte Unterwelt; der visuelle Wirrwarr ist so dicht, dass der urbane Horror des Kairoer Stadtverkehrs und die beengten Lebensräume der Stadt darin widerhallen. Ihr jüngstes Projekt »Borg el Amal« (Turm der Hoffnung, 2008) brachte ihr Anfang des Jahres bei der 11. Kairo Biennale den Grand Nile Prize ein. Das an sich deutet bereits einen interessanten Schnitt an. Als Ausstellungsdebütantin in einem staatlichen Projekt entschied sich Baladi, genau jene sozialen und politischen Schandflecke, welche die Regierung so verzweifelt zu verdecken sucht, zu ihrem bewohnten Kunstobjekt zu machen. Inspiriert von der informellen Backsteinarchitektur um Kairo errichtete sie einen neun Meter hohen Turm auf den der Regierung unterstehenden Opera Grounds, dem Hauptsitz der Biennale. Das ephemere Konstrukt beherbergt eine Symphonie, die auf Henryck Goreckis Symphonie Nr. 3 (op. 36) basiert, vermischt mit Eselsgeschrei. So verwandelt sie eines der am meisten verunglimpften Tiere Ägyptens und die Wohnverhältnisse der Armen in etwas, das nicht nur wunderschön, stolz und leidenschaftlich, sondern auch für ein hochkarätiges Ereignis wie eine Kunstbiennale angemessen ist.

Mit reduzierten touristischen Bildern von Kairo spielt auch die Fotografin Maha Maamoun in ihrer Fotoserie »Domestic Tourism« (2005). Obgleich sie sich an die Konventionen des Genres der perfekten Postkartenfotografie hält, bringt Maamoun doch etwas sehr Eigenes mit. Sie appelliert an unsere Sehnsucht nach leicht konsumierbarem und verdaulichem Bildmaterial und bietet uns Schönes und Vertrautes, jedoch nur auf den ersten Blick. Ihr nächtlicher Blick auf Kairo könnte von jedem beliebigen Dach aus fotografiert worden sein. Erst die genauere Betrachtung zeigt, dass alle Reklametafeln – allgegenwärtige Gegenstände und Ikonen der Wegwerf- und Konsumgesellschaft – durch eine Nahaufnahme der Lippen von Präsident Hosni Mubarak ersetzt wurden. Da die Hauptstadt mit Porträts des Präsidenten gespickt ist, erkennen ÄgypterInnen diese Lippen mit Sicherheit wieder. Mubaraks leises Lächeln verleiht dem Bild eine bedrohliche Atmosphäre der Überwachung, ein Gefühl von »Big brother is watching you«.

Die Fetischisierung von Nostalgie und Symbolik
Der audiovisuelle Künstler Hassan Khan hat bereits verschiedentlich die Rückbesinnung auf Nostalgie und Symbolik als kulturelle Tropen in der ägyptischen Gegenwartskunst beklagt.2 Gemeinsam mit seinem Künstlerkollegen Sherif el Azma kritisiert er, was beide die »Fetischisierung des Altertümlichen« nennen. Für sie ist diese Haltung eine Selbstorientalisierung. In der Tat spielen einige KünstlerInnen mit diesen Kodes herum, indem sie ihre Verweise im alten Ägypten verwurzeln, in der Folklore und der Populärkultur. Interessanter ist jedoch die Frage, was die Fetischisierung einer bereits fetischisierten Sache (pharaonische Ikonografie) tatsächlich bedeutet. So wird beispielsweise die Arbeit des Videokünstlers Khaled Hafez häufig als »Kunst der Dichotomien« bezeichnet,3 worin er (erschöpfte) Zweiheiten wie Ost/West, Mann/Frau, traditionell/zeitgenössisch, Antike/Pop auf riesigen Leinwänden zusammenbringt. Wenn er mit den Gestalten antiker ägyptischer Gottheiten wie Isis und Anubis arbeitet und diese mit gegenwärtigen Superhelden wie Batman in Verbindung bringt, wird es interessanter, Hafez’ Arbeiten, deren Erkennungszeichen ihre Serienmäßigkeit ist, als Kommentar der globalisierten Konsumgesellschaft zu lesen denn als Bestreben, kulturelle Polaritäten zu hybridisieren. Auffällig ist in der Tat die Beliebigkeit der Ikonografie, ob es sich nun um ägyptische Gottheiten handelt, um amerikanische Cartoonsuperhelden oder verführerische Modefotos. Nirgendwo findet sich noch Authentizität, das Bild wird selbstreferenziell – und somit selbst zur Ware – anstatt zu einer »ausnehmend ununterbrochenen Linie der menschlichen Einbildung«4. Hafez bietet uns, wonach wir uns als KonsumentInnen letztendlich alle sehnen: oberflächliche Supermodels in einer Collage mit dem Überschuss des mysteriösen orientalistischen Alten. In diesem Sinne ist er eher zeitgenössisch als nostalgisch.

In ihren Mixed-Media-Installationen und Gemälden wird Huda Lutfi, Professorin für islamische und arabische Kulturgeschichte, zur urbanen Bastlerin. Sie verbindet Alltagsgegenstände wie Parfümflaschen, Puppen und Krimskrams, den sie im Souq el Gumaa (dem freitäglichen Flohmarkt) gefunden hat, mit der weiblichen Ikonografie des alten Ägypten, der Popkultur und der indischen Kultur. In ihren Arbeiten hinterfragt sie die Position der Frauen, Geschlechterrollen und Vorstellungen von Weiblichkeit, allerdings auf humorvolle und sehr vielschichtige Art und Weise. Ihre liebste Protagonistin ist dabei die ägyptische Sängerin Umm Kulthum, die von ÄgypterInnen aller Gesellschaftsschichten geliebt und verehrt wird. Während Umm Kulthum oft als nationalistisches Symbol der Frau als Nation interpretiert wurde, präsentierte Lutfi sie in ihrer letzten Einzelausstellung »Zan’it al-Sittat« in der Third Line Gallery in Dubai als Figur mit einer sehr eingeschränkten Weiblichkeit. In ihrer Gemäldereihe »Suma Mother of Liberty« (2008) reproduzierte die Künstlerin das Gesicht der Sängerin in der Freiheitsstatue, die allerdings etwas unsicher auf nur einem, in einem Stöckelschuh steckenden Fuß steht. Ihre »Befreiung« ist quasi an der Basis etwas wacklig. Nostalgie? Vielleicht. Aber eher eine, die unerreichbar und brüchig ist.

In einer Gesellschaft, die von krassen Klassenunterschieden geprägt ist und in der soziale Aufstiegsmöglichkeiten durch Korruption und Vetternwirtschaft gebremst werden, ist der Künstler Ayman Ramadan ein lebendes Beispiel für den Bruch mit diesen Tabus. Seine Aschenputtelgeschichte – vom Wachmann der Townhouse Gallery zum Künstler, der in der Tate Modern und dem New York New Museum ausstellt – hat ihn zum Liebling westlicher KuratorInnen und zur Erfolgsgeschichte der Townhouse Gallery gemacht.

In seinen Arbeiten konzentriert er sich vor allem darauf, die Realität und Routine der Kairoer Arbeiterklasse in die Galerie zu bringen. Projekte wie »A Downtown Street« und »The Waiting Room« (2002), »Baladi Bus«, »Coffee Shop« und »Iftar« (2004), sowie »Koshary min Zamman« (2006) betonen, wie unsichtbar, prekär und dementsprechend stagnierend und frustriert eine Schicht der ägyptischen Bevölkerung ist, die von der Regierung weitgehend ignoriert wird. Ramadans Projekte sind besonders im lokalen Kontext von Bedeutung. Sie zu exportieren, birgt das Risiko, an Kritikalität zu verlieren und sie auf ihre mimetischen und folkloristischen Aspekte zu reduzieren. Seine jüngsten Arbeiten, darunter die nüchterne skulpturale Videoinstallation »Hekaya« (2008), scheinen von dieser Formel leicht abzuweichen.

Die Evakuierung des Zeitgenössischen
Wie kann man also von einem zeitgenössischen Moment sprechen, ohne sich der Last der historischen und nationalen Repräsentation zu beugen? Die Arbeiten von Tarek Zaki and Basim Magdy liefern hier die effektivsten und erfrischendsten Strategien. Zwar haben beide Künstler vor Kurzem das Land verlassen und leben nun in New York bzw. Basel, doch haben sie sich in ihren Arbeiten auf einer Metaebene mit genau jenen vorherrschenden Diskursen beschäftigt, die das Verständnis des Epischen durch zeitgenössische und kritische Äußerungen so kompliziert machen. Obwohl sie jeden direkten Verweis auf Ägypten meiden, befassen sich ihre Arbeiten auf spielerische und konzeptuelle Art und Weise mit Themen wie Archäologie, Autoritarismus, Geschichte, Monumentalität, Militarismus, Heldentum, dem Institutionellen, Zeit und Wahrheit. Letztere haben sie durch das Ausmerzen der linearen Marschgeschwindigkeit institutionalisierter Geschichte vollends dekonstruiert und durch etwas anderes ersetzt. Tarek Zakis skulpturale Installation »Monument X« (2007) konfrontiert uns mit den Überresten eines fiktiven Monuments, dessen Zweck, Zeit und Ort unbekannt sind. Die in Gips und Zement gegossenen Elemente wurden sorgfältig als Ausstellungsstücke arrangiert. Die Säulen, Treppen, Bögen und Teile von Statuen bieten uns Hinweise auf etwas, das es einmal gegeben haben muss, das aber nicht mehr existiert. Zakis ganzes Werk dreht sich um die Dekonstruktion des Monuments als solches – als Kunstobjekt und als Symbol eines politischen und historischen Monuments. Sein Zerfall und seine offene Interpretation legen nahe, dass die Vorstellung von skulpturalen und historischen Inventarstücken in Zeiten beschleunigten Wandels eine archaische Obsession ist, die zunehmend irrelevanter wird.

Basim Magdy dagegen katapultiert uns in Welten des Absurden, der Science-Fiction, fiktiver Kulturen und durchbrochener akademischer Disziplinen. Er schafft eine Umgebung, in der Fiktion und Realität aufeinandertreffen und die Wahrheit zu einer Variablen wird, und übernimmt selbst die Rolle des Schwindlers. In seinen Zeichnungen, Fotografien und Installationen kommen Affen, Astronauten, Albinoteufel, Flugzeuge, Hubschrauber, Außerirdische und militärische Figuren vor. Systeme zur Klassifizierung von Wissen wie Paläontologie, Geologie und Tierpräparation dienen als spielerische Bausteine für die Konstruktion futuristischer bzw. atavistischer epistemologischer Relikte. Wahrheitswert und Tatsachenüberprüfung sind unwichtig, Wissen ist Macht – jede Art von Wissen. In seiner Installation »In the Grave of Intergalactic Utopia« (2006) ist ein einsamer lebensgroßer Astronaut in einen Hühnerkäfig eingesperrt, umgeben von einem Futternapf, einem Ventilator, selbstgezogener Luzerne, einem Wasserbehälter und einem Fernsehgerät. Der Astronaut als sinnbildlicher Held der Wissenschaft und Forschung wird auf ein Tier reduziert, das wir begaffen können. Absurde Details machen die Szene noch verwirrender: winzige Spielzeugtiere, Erdnüsse, die dem Astronauten auf den Schoß gestreut wurden, Plastikfliegen und ein Mauseloch im Käfig, in dem ein riesiges Stück Käse versteckt ist.

In einem späteren Projekt namens »Mud Pools and how we got ourselves to look for Bigfoot Heaven« baut der Künstler die Installation auf der Geschichte einer obsoleten Hightech-Bigfoot-Kultur auf, auf deren Niedergang und nachfolgenden Entdeckung durch menschliche WissenschaftlerInnen. Dafür bedeckte Magdy den kompletten Galerieraum mit Laub und Mulch. Auf den Wänden der Galerie die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs von Little Bigfoot und seiner aus Lehm erbauten Stadt, in der Mitte ein getarnter Wohnwagen mit einer Bigfoot-Figur, wahre Identität unbekannt: Ist es ein Wissenschaftler in einem Bigfoot-Kostüm, ein echter Bigfoot oder nur ein Kostüm? Wie in seinen früheren Installationen verleihen die Details des voll möblierten Wohnwagens der Seherfahrung eine gewisse Würze und tragen zur allgemeinen Verwirrung bei: ein Fernglas, ein ausgelegter Satz Spielkarten, ein überquellender Aschenbecher, Wasserflaschen, Mikroskope und andere Gegenstände der wissenschaftlichen Feldforschung und des Überlebens. Wieder einmal bewegt uns die Frage, wie Geschichte – und wessen Geschichte – hier konstruiert und dargestellt wird. Ist es die der Wissenschaft, die von Bigfoot oder die des Künstlers? Letztendlich ist Magdys Kunstpraxis eine von gefallenen HeldInnen und gebrochenen Epen. Im größeren Zusammenhang der Gegenwartskunst Ägyptens war Magdys Hauptanliegen, nämlich die Frage »was macht das Absurde glaubhaft, und wie überzeugend sollte Fiktion sein, wenn sie Teil unserer Realität werden soll?«, niemals zeitgemäßer.5

Die Recherche für diesen Artikel wurde ermöglicht durch ein Kuratorenstipendium des Fonds BKVB (The Netherlands Foundation for Visual Arts, Design and Architecture).

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Dina Ramadan, Regional Emissaries: Geographical Platforms and the Challenges of Marginalisation in Contemporary Egyptian Art. Protokoll der Apexart Conference 3, Honolulu, Hawaii 2004, http://apexart.org/conference/ramadan.htm
2 Hassan Khan während einer nicht öffentlichen Diskussion am runden Tisch in der Townhouse Gallery, 24.12.2008.
3 Ein ausführlicher Essay zu dem Thema findet sich bei Jessica Winegar, The Art of Dichotomy, in: Contemporary Practices, Band 2, April 2008, S. 114–121.
4 Martina Corgnati, Idlers’ Paradise Exploring the Mixed Practices of Two Middle East Contemporary Artists: Khaled Hafez (Ägypten) und Diana El Jaroudi (Syrien), in: Contemporary Practices, Band 2, S. 122–128, April 2008, hier S. 124.
5 In einem Interview mit Rachel Cook, http://glasstire.com/index.php?option=com_content&task=view&id=1542>sect=Articles>cat=Interview