Heft 1/2011 - Artscribe


»Zukunft der Tradition – Tradition der Zukunft«

100 Jahre nach der Ausstellung »Meisterwerke muhammedanischer Kunst in München«

17. September 2010 bis 9. Januar 2011
Haus der Kunst / München

Text: Kerstin Kellermann


München. »Diese kleinen, bisschen Hakenkreuze können nicht vernichtet werden, die kann man nicht abschlagen«, sagt der moldawische Kunstwächter entschuldigend und zeigt auf die rot in grün ineinander verschlungenen Hakenkreuze oben an der Überdachung der Terrasse unter den Säulendächern. Denkmalschutz? Zu hohe Kosten? Er weiß es nicht. Dann muss die freundliche Aufsichtsperson schleunigst zurück in die Halle des Hauses der Kunst laufen.
Im Eingang der Schau »Zukunft der Tradition – Tradition der Zukunft« findet sich ein Rückblick auf die Ausstellung »Meisterwerke muhammedanischer Kunst« von 1910. Zu der Zeit war die »muhammedanische Kunst« auf der Theresienhöhe amüsementfördernd in eine große Bierwirtschaft, einen Luftschiffhafen inklusive österreichischem Armeeluftschiff, eine Karawanserei plus Kinematografen und Feuerhaus eingebunden – alles wohl Bestandteile für fantasievolle Fluchten aus der Realität der damaligen Gesellschaft. Auch die Exponate aus verschiedenen islamischen Ländern entsprachen vermutlich den damaligen Vorstellungen von Fluchtlinien aus der Gesellschaft heraus.
Allein die Akten der Polizei betreffend die Unterbringung der »orientalischen« Kunsthandwerker und Teppichknüpfer, »die sich bisher so benommen haben, dass kein Grund zur Besorgnis vorliegt«, im Souterrain ehemaliger Hafträume erinnern an die medial verbreiteten Bedrohungsszenarien durch »den Islam« in heutigen Lebenswelten.
Den riesigen Hauptraum (Architektur: Samir El Kordy) dominieren querdurch gespannte schwarzdurchsichtige Stoffbahnen mit eingewebter Hochhaus-Skyline, die Wege bilden. Von oben hängen weiße Stoffbanner mit schwarzen Schriftzeichen herab, die 99 Banner der »Unsichtbaren Meister« von Rachid Koraichi (2008) sollen beschützend wirken – diese Tradition reicht zurück bis in die Zeit der Pharaonen. Gehen die »Fluchtlinien«, die jede Gesellschaft braucht, um überleben oder sich reformieren zu können, in islamischen, arabischen, muslimischen Gesellschaften nach oben? Oder ist dieser Gedanke eine Mystifizierung und eine Folge davon, sich arabische Gesellschaften als »geschlossene« vorzustellen? In den facettenreichen Spiegelskulpturen von Monir Shahroudy Farmanfarmaian (»The Number of Material Order«, 2004, »Untitled«, 2008) nach Spiegelmosaiken aus dem Iran des 17. Jahrhunderts spiegelt sich das Glasdach der Halle.
Nur wenn die gezeigten Fluchtlinien aus den Engen einer Gesellschaft deren Mitglieder manipulieren, das kollektive Gedächtnis der Unterdrückten verraten, seien sie gefährlich und falsch, schrieb Abdul-Rahim Al-Shaikh im Katalog zur Ausstellung »Islamische Bildwelten und Moderne« in Berlin: »Der nomadische Raum ist sowohl im poetischen als auch im politischen Sinne radikal. Als heterotopischer Ort folgt der weiche Raum einer anarchischen Struktur, für die Zeitlichkeit und Bewegung die einzigen Leitprinzipien sind.« Kunst sei daher das vollendete Medium der Deterritorialisierung als einer Form der Auflösung.
Rund um den Hauptraum weisen Durchgänge in Räume mit zeitgenössischer Kunst aus verschiedenen Ländern des »Nahen Ostens«. In den real geschlossenen Flüchtlingslagern der PalästinenserInnen können Fluchtlinien bedingt durch die Mauern nur nach oben weisen, deutlich zu sehen in der Installation »Qalandia 2087« (2009) von Wafa Hourani, auch wenn aus den Fenstern der Betonhäuschen die ganze Welt aus dem Radio tönt (Song: »We gotta live/stay/stick together«) und durch Musik zumindest eine virtuelle Weite erzeugt wird. Auch hier überall Spiegel, Glitzer, Aquarien, Schwimmbecken – das Licht wird gedimmt und erstrahlt in regelmäßigen Abständen. Die Palestinian Mirror Party entschied sich, in diesem Kunstwerk Spiegel an die Mauer des Flüchtlingsfreiluftgefängnisses aufzuhängen, um mehr Raum vorzutäuschen.
Auf einem Flachdach in der Sonne spielt ein Kinderfilm des Kollektivs Dar Onboz, einem »Nistplatz für utopische Künstler« im Libanon, in dem sich Handpuppen oben auf den Dächern amüsieren. Unmengen von Fernsehantennen, brüchige abgenutzte Häuser als Kulisse, in der Ferne das Meer? Raum in der Luft und im Kopf – Platz allein nach oben und innen? Oder zeugt dieser Gedanke wiederum von einer Romantisierung und Mystifizierung »arabischer« Gesellschaften in Richtung virtuelle Welten und Weiten?
Magische Drehscheiben, Guckkasten, noch mehr Kunst, die nach oben weist: eine Frau, die an Luftballons gebunden schwebt, Schmetterlinge, schwebende Geräte, auf denen »Do not enter« steht. Die Dreharbeit »Gran Royal Turismo« (2003) aus Holz mit Wüste, Palmen und Autos von Yto Barrada stellt hingegen einen geschlossenen Kreis angelehnt an die Systeme des Kolonialismus oder die »Festung Europa« dar.
Bieten »islamische« Gesellschaften durch ihre Traditionen und Religionen wirklich mehr Auswege in virtuelle Räume, offenen Platz nach innen? Sind »westliche« Leute in Wahrheit deswegen so verärgert, weil sie selbst auf die Wirklichkeit zurückgeworfen sind und über weniger kollektiv erarbeitete Strukturen der Raumerweiterung in Gedankenwelt, Kunst, Religion oder Philosophie verfügen? Ein Fluchtlinienkonzept würde moderne arabische Kunst auf jeden Fall aus den Grenzen der Identitätspolitik befreien und alle Formen von Gesellschaft miteinbeziehen und infrage stellen. In einem »weichen Raum« würden die Menschen versuchen, geschehenes Unrecht wieder gutzumachen, schreibt Al-Shaikh, und allen subversiven und destabilisierenden Bedingungen zum Trotz eine Veränderung zum Guten hin bewirken.