Heft 2/2012 - Netzteil


Das geheime Leben der Dinge

Zur Ästhetik des spekulativen Realismus

Rahma Khazam


In den letzten Jahren hat der Enthusiasmus der Kunst für die Philosophie schwindelerregende Höhen erreicht. Regelmäßig ergreifen Philosophen wie Jacques Rancière oder Boris Groys auf Kunstmessen und Biennalen das Wort, und ein ganzes Gewusel von Ausstellungen brütet über die Beziehung von Kunst und Philosophie oder deren gemeinsames Interesse an Begriffen wie Autonomie und Wahrheit. Nicht weniger drastisch ist die wachsende Vorliebe der Kunstwelt für die »spekulativer Realismus« genannte Philosophie. Berüchtigt geworden in der Blogosphäre stellt der spekulative Realismus aber nicht bloß die üblichen Verbreitungsmethoden der Philosophie infrage. Er kündet auch von einem Paradigmenwechsel in der zeitgenössischen Kunst – weg von der Duchamp’schen Privilegierung des Publikums, dessen Auffassung ein Kunstwerk erst vollendet, und hin zu einer beklemmend menschenleeren, objektorientierten Ästhetik.
Die erste Konferenz über den spekulativen Realismus wurde 2007 am Londoner Goldsmiths College abgehalten. Dort traten vier Philosophen auf, die sich in ihrer Ablehnung des Korrelationismus – jener Theorie, wonach wir nur zum Schein der Dinge Zugang haben, nicht jedoch zu den Dingen an sich – einig waren. Der spekulative Realismus geht dagegen von einer vom jeweiligen Bewusstsein unabhängigen und damit den Menschen gegenüber neutralen Welt aus.1 Von diesem Ansatz ausgehend entwickelte jeder der vier Philosophen seine eigene Variante. So verwendet Quentin Meillassoux den Ausdruck »arche-fossil«, um damit eine Realität »vor jedem irdischen Leben« zu kennzeichnen,2 während Graham Harman die Bedeutung des schieren Objekts hervorhebt. Harman hat ein System ausgearbeitet, »nach dem ›Dinge‹ für das Dasein zentral sind, und der Mensch nur eines dieser Dinge ist«.3
So wie sich diese Philosophen über ihre Gegnerschaft zum Korrelationismus fanden, eint die KünstlerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen, die sich auf den spekulativen Realismus beziehen, ihr Widerstand gegen das Relationale, insbesondere gegen die sogenannte »fragmentarische Ästhetik«. Letztere meint den Hang, Verbindungen zwischen einzelnen Objekten und Ereignissen herzustellen, als wären sie Teil eines übergeordneten Ganzen. Die Kunsthistorikerin Ida Soulard, der Künstler und Lehrer Sam Basu sowie der Kurator Tom Trevatt erläuterten diesen Standpunkt und seine Folgen anlässlich eines Symposiums letzten Dezember im Pariser Projektraum Rosascape.

Ida Soulard unterstrich dort in ihrem Vortrag, dass der spekulative Realismus weder eine Bewegung noch eine Methode sei. Es handle sich vielmehr um ein offenes Forschungsfeld, eine Denkgymnastik, die sich gegen die zentrale Position des menschlichen Subjekts richtet, die für die westliche Philosophie so fundamental ist. Ins Auge gefasst wird stattdessen eine Welt ohne Menschen, was bislang eher eine Domäne der Naturwissenschaften war. Soulard betonte füglich, dass diese neue Welt von den Entwicklungen in den Neurowissenschaften, der Quantenmechanik und der Topologie geprägt sein werde. Die Kunst solle zugleich nicht ausgeschlossen werden. Sam Basu sicherte in seinem Vortrag jenen pädagogischen Projekten seine Unterstützung zu, welche die zentrale Stellung des Einzelkünstlers oder der Einzelkünstlerin durch kollektive, unhierarchische Projekte ersetzen wollen. Tom Trevatt wiederum wandte sich gegen die heute übliche Art des Ausstellungsmachens, bei denen die Kunstwerke bloß Platzhalter für die Ideen des Kurators oder der Kuratorin seien. Das objektive Dasein der Werke würde dabei schlechthin übergangen. Trevatts objektorientierter Ansatz liegt damit auf einer Linie mit Graham Harmans Theorie, doch enthielt sich Ersterer, wie er in seinem Vortrag explizierte, eines Beitrags zur philosophischen Diskussion. Stattdessen wollte er zeigen, dass die Kunst auf die durch den spekulativen Realismus aufgebrachten Themen gut vorbereitet sei. Die SeminarteilnehmerInnen planen dementsprechend nicht nur eine Zeitschrift für künstlerische Forschung, sondern auch eine Folgekonferenz im September 2012, welche die Implikationen des spekulativen Realismus für die künstlerische und kuratorische Praxis konkretisieren soll.

Harz, Holzkohle, Papier
Das Seminar im Rosascape fand im Rahmen einer Ausstellung von Fabien Giraud statt, die unter anderem auch die Fragestellungen des spekulative Realismus streifte. Giraud stieß nämlich auf die Schriften Meillassoux’, während er die Ausstellung konzipierte, und war verblüfft, wie ähnlich sein künstlerischer Ansatz und die Vorstellung des Philosophen von einer menschenfreien Welt waren. Giraud dazu: »Die Verbindung zwischen meiner Kunst und dem spekulativen Realismus besteht darin, dass meine Werke auf eine Realität jenseits des menschlichen Daseins anspielen«.4 Die Ausstellung ist rund um »Metaxu« strukturiert, die Abschrift eines Gesprächs zwischen dem Künstler und seinem Kurator Vincent Normand, in dem es um die radikalen Veränderungen seit dem Beginn der Moderne geht. Giraud meint, dass die Kunst nunmehr, da die Moderne an ihr Ende gekommen sei, wieder zu ihrem vormodernen Status und ihrem ursprünglichen griechischen Namen »techne« zurückkehren könne. Der Übergang von den historisch-ästhetischen Referenzen an die Moderne zu einer Materialität, die mit dem Vormodernen in Zusammenhang stünde, wird dabei durch Werke wie einen roh behauenen Granitblock und ein Blatt Papier versinnbildlicht, das durch mehrere Schichten Harz und Holzkohle versteift wurde. Dies gemahnt an die Elementarkräfte aus vormenschlichen Zeiten. Wie der Ausstellungstitel, der auf Deutsch etwa »Tod erfasst Leben (Das Haus außen)« heißt, können solche Arbeiten als Verweise auf eine ferne, vom menschlichen Denken unbefleckte Welt gelesen werden.
Obwohl nicht nur die unorthodoxen Thesen des spekulativen Realismus, sondern auch seine grundsätzliche Abwehrhaltung gegen das Menschsein als solches ihre KritikerInnen haben, scheint die Denkgymnastik, zu der er Anlass gibt, einen Teil seines Reizes für die Fans in der Kunstwelt auszumachen. So versucht der Kurator und Miturheber von »Metaxu«, Vincent Normand, entgegen der Reduzierung von Kunst auf das Verhältnis zwischen Objekt und Betrachter durch die relationale Ästhetik das Kunstwerk auf eine Vielzahl von Bezügen und Deutungen hin zu öffnen. Seine Art zu kuratieren scheut Restriktionen. Stattdessen betont Normand die Reichhaltigkeit des einzelnen Kunstwerks und somit auch die Thesen des spekulativen Realismus. Doch, so merkt er an, »der spekulative Realismus ist nicht der Ausgangspunkt für meine kuratorische Praxis, sondern nur ein Ideenpool, der gut zu meinen eigenen Mutmaßungen passt«.5

Ein solcherart objektorientierter Ansatz hat wichtige Konsequenzen. Denn wenn es Objekte gibt, ohne von Menschen wahrgenommen zu werden, könnten sie uns – so wie das Wetter – auch beeinflussen, ohne dass wir es notgedrungen merken. »Die spekulativen RealistInnen wollen Schluss machen mit dem Menschen als Zentrum des Wahrnehmens und Handelns. Das heißt, es wird [uns unbekannte] Beziehungen geben, die uns beeinflussen, und auch Beziehungen der Dinge untereinander, ohne dass wir es wissen«, behauptet Kristoffer Gansing, künstlerischer Leiter des Medienkunstfestivals transmediale.6 Und tatsächlich: Für Graham Harman, einen der Hauptredner bei der transmediale 2012, sind die Beziehungen der Dinge untereinander genauso wichtig wie die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen. Gansing spinnt den Gedanken weiter: »Das würde ganz offenkundig den [privilegierten menschlichen] Willen infrage stellen, aber sich auch darauf auswirken, was als Kunst oder ästhetisches Objekt gilt und was nicht, und uns weiters dazu zwingen, über eine wunderliche nicht-menschliche Ästhetik und auch die Möglichkeit einer Kunst von Tieren nachzudenken«.7
Harman sieht auch entscheidende Verbindungen zwischen dem spekulativen Realismus und der Medienkunst: »Das Wort ›Medien‹ ist, wie wir wissen, der Plural von ›Medium‹. Alles, was wir explizit wahrnehmen, geschieht vor einem Hintergrundmedium, und dieser Hintergrund bestimmt unser Erleben mehr als jeder Bewusstseinsinhalt, auf den wir uns gerade konzentrieren. […] Das war ja die wichtigste Idee von Marshall McLuhan. […] Wir konzentrieren uns auf die laufende Fernsehsendung oder meinetwegen die Worte, die wir gerade in einem Buch lesen, doch dabei entgeht uns die Wirkung des Fernsehens oder des Buchs als Medium. […] Das Hintergrundmedium aller Wahrnehmung und aller Sprache ist eines der wichtigsten Themen meiner Arbeit«.8 In seinem Vortrag auf der transmediale äußerte Harman dann Zweifel an einer weiteren Kernthese der heutigen Philosophie, namentlich dem Holismus: »Jahrzehntelang galt es zwangsläufig als fortschrittlich, gegen isolierte Entitäten und für eine ganzheitliche Sichtweise einzutreten. Meiner Meinung nach wurde der Holismus dadurch zum neuen Klischee, und es ist höchste Zeit zu untersuchen, inwieweit die Objekte nicht miteinander in Verbindung stehen.«9

Hyperchaos und Objektorientierung
So manche MusikerInnen und KomponistInnen schlagen in dieselbe Kerbe. In Manfred Werders »stück 1998« zum Beispiel ergeben 160.000 Zeiteinheiten, bestehend aus jeweils sechs Sekunden Klang und sechs Sekunden Stille, eine Dauer von 533 Stunden und 20 Minuten. Die Pausen zwischen den Klängen sind so angelegt, dass sich diese nicht verbinden, sondern als isolierte Ereignisse gehört werden, was Harmans antirelationalem Standpunkt entspricht. Werder arbeitet zudem mit hohen und tiefen Frequenzen, die außerhalb des Hörspektrums des Menschen liegen. Dennoch wirken sie auf uns, was beweist, dass unsere Gefühle und Empfindungen von Dingen beeinflusst werden, die großteils unbewusst sind. Werder meint, die Wirkung unhörbarer Töne auf unsere Gedanken und Gefühle lasse sich auch mit folgendem Satz aus »Nihil Unbound« des Philosophen Ray Brassier belegen: »Es ist nicht mehr das Denken, das, ob nun mittels Vorstellungen oder auch Intuitionen, das Objekt bestimmt, sondern die Objekte, die das Denken antreiben und dazu zwingen, sie zu denken, oder besser gesagt, ihnen gemäß zu denken«.10
Indessen wird die Musik den entfesselten Abstraktionen des spekulativen Realismus nicht immer gerecht, wie zum Beispiel Florian Hecker mit seiner Komposition »Speculative Solution« entdecken musste. Dieses Werk setzt sich mit Quentin Meillassoux’ Begriff des Hyperchaos auseinander. Eine Komposition ist aber endlich, während sich das Hyperchaos auf die Unendlichkeit des Universums bezieht. Das Hyperchaos ist tatsächlich ohne Ordnung, während der Zufall in bestimmten zeitgenössischen Musikstücken bloß eine andere Art der Ordnung darstellt, die von mathematischen Gesetzen erfasst werden kann.11

In ihrer Radikalität und schrankenlosen Erweiterbarkeit drängen solche Trends – besonders das nicht-holistische Denken, die Vorrangigkeit des Objekts und die Zuschreibung von Aktivität an physische Objekte – auch in Felder jenseits von Musik und bildender Kunst. Diesen Februar zum Beispiel gab das Symposium »Objects in Performance« im Goethe-Institut New York einen Überblick über die neuesten Strömungen des objektorientierten Experimentaltanzes und der objektorientierten Performance. Die Architektin Alisa Andrasek wiederum beschäftigt sich mit Design aus der Perspektive der Aktivität und Physik der Materie, während der Mathematiker Fernando Zalamea das Prinzip des totalen Holismus hinterfragt. Der Medienkünstler Christopher Salter, der seinerseits an einem Buch über physische Wirkkräfte im Kunstkontext schreibt, meint dazu: »Der Ausdruck ›spekulativer Realismus‹ ist zu einem Sammelnamen für die Besessenheit vom ›Nichtmenschlichem‹ – von den von Menschen unbeeinflussbaren Dingen, Objekten und Prozessen – geworden, und zwar nicht nur in der Medienkunst, sondern auch in der Philosophie, den Kultur- und Politikwissenschaften, den Wissenschaftsstudien und sogar den auf der Betrachtung des Menschen beruhenden Fächern wie der Soziologie und der Anthropologie. […] Die Kritik am Anthropozentrismus ist allgemein wichtig, weil die vielen sozialtechnischen Großkatastrophen der letzten Jahre – ich muss an Fukushima, den Finanzcrash und die ökologische Katastrophe denken – darauf hinweisen, dass unsere anthropozentrische Weltsicht problematisch ist«.12
Wie ist es also nun um die Beziehung der Kunst zur Philosophie bestellt? Für den Philosophen Robin Mackay liegt eine der bemerkenswertesten Funktionen der Kunst für die Philosophie darin, »Begriffe so zu dramatisieren, dass sie gespürt werden können«.13 Nach Meinung des spekulativen Realismus jedoch illustriert oder dramatisiert die Kunst nicht bloß philosophische Begriffe, sondern trägt selbst zur Debatte bei.

www.rosascape.com

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 Vgl. das »Gründungsdokument« unter www.urbanomic.com/Publications/Collapse-3/PDFs/C3_Spec_Real.pdf
2 Quentin Meillassoux, After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency, engl. Übers. von Ray Brassier. London/New York 2008, S. 10.
3 Aus der Einleitung zu »Graham Harman interviewed«, Dialogica Fantastica, http://dialogicafantastica.wordpress.com/2011/03/06/graham-harman-interviewed/
4 Fabien Giraud in einem E-Mail-Interview mit der Autorin, Januar 2012.
5 Vincent Normand im Gespräch mit der Autorin, Januar 2012.
6 Kristoffer Gansing in einem E-Mail-Interview mit der Autorin, Januar 2012.
7 Ebd.
8 Graham Harman in einem E-Mail-Interview mit der Autorin, Januar 2012.
9 Ebd.
10 Ray Brassier, Nihil Unbound: Enlightenment and Extinction. New York 2007, S. 149.
11 Vgl. www.grahamfoundation.org/public_events/3904-florian-hecker
12 Christopher Salter in einem E-Mail-Interview mit der Autorin, Januar 2012.
13 Robin Mackay auf ayp.unia.es/dmdocuments/public_doc05b.pdf, S. 23.