Heft 4/2014


Kognitives Kapital

Editorial


Im Zusammenhang mit informations- und wissensbasierten Ökonomien wird häufig der Begriff „kognitives Kapital“ im Mund geführt. Nicht mehr physische Arbeitskraft oder industrielle Produktion gelten als Angelpunkte dieser Wirtschaftsform, sondern geistige, intellektuelle und affektive Arbeit. Zumindest postuliert es die Theorie dieser dritten Phase des Kapitalismus (nach dem Handels- und dem Industriekapitalismus) so. Zwar ist länger schon von „körperloser Arbeit“ oder vom „Semiokapitalismus“ die Rede, der vorwiegend mit immateriellen Gütern handelt, egal ob darunter Markennamen, Finanzderivate oder sogenannte Metadaten verstanden werden. Der kognitive Kapitalismus scheint sich indessen nicht bloß über die Produkte der geistigen Arbeit zu erstrecken, sondern über den gesamten kognitiven Apparat ihrer ProduzentInnen. Dieser, so die Theorie, ist immer weniger vor den alles durchdringenden Wertschöpfungsprozessen gefeit, nicht einmal in seinen hintersten, den jeder Verwertung scheint’s unzugänglichen Regionen.
Grund genug, diesen Ansatz, auch in seiner kulturellen und künstlerischen Tragweite, einer umfassenderen Befragung zu unterziehen. Inwiefern macht es Sinn, den Bereich des Kognitiven und seine marktwirtschaftliche Nutzbarmachung analog zur herkömmlichen Wertakkumulation zu verstehen? Sind die gegenwärtigen Netzwerkökonomien, auf unzähligen Knoten bzw. deren wechselseitiger Verstärkung aufbauend, tatsächlich auf die mentalen Qualitäten ihrer Subjekte rückführbar? Muss nicht irgendwo im kognitiven Rückhalt dieser Subjekte, so sehr sie auch gezwungen sind, ihre geistigen Fähigkeiten zu Markte zu tragen, etwas angelegt sein, das sich dieser Wertschöpfung und Kommerzialisierung versperrt?
Yann Moulier Boutang, der 2007 eine der bislang umfangreichsten Analysen des kognitiven Kapitalismus vorgelegt hat, nähert sich im Interview diesen Fragen über einen Umweg. Die Metapher der herumschwirrenden Bienen, die nolens volens ihre ganz elementare Befruchtungsarbeit verrichten, bildet für ihn das Urbild der kognitiv Arbeitenden. Indem diese Befruchtungsarbeit auf den digitalen Plattformen, die von immer mehr Menschen genutzt werden, auf findige Weise „abgeschöpft“ wird, entsteht genau jenes Szenario, das eine sich als fortschrittlich verstehende Wissensgesellschaft vor Rätsel stellt: Wie lässt sich der obszöne Ertrag, den der „Drache GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple)“ tagtäglich einfährt, auf seine vielen ZuarbeiterInnen umverteilen? Ist ein revolutionäres Subjekt des kognitiven Kapitalismus, so wie es das Proletariat in Bezug auf den Industriekapitalismus eines war, überhaupt noch denkbar? Moulier Boutang sieht einen Hoffnungsschimmer in der Schaffung neuer sogenannter Commons – eine Tendenz, die er beispielsweise im Bereich der künstlerischen Forschung ortet.
Diesbezüglich weniger optimistisch gibt sich Matteo Pasquinelli, der in seinem Beitrag der immer weitreichenderen „Informatisierung“ sämtlicher Lebensbereiche, einer Art Kernoperation des kognitiven Kapitalismus, nachgeht. Von der Finanz über das Klima bis hin zur Gesundheit sei das „Auge des Algorithmus“ inzwischen wachsam – und könne doch die ständig in diesen Bereichen hereinbrechenden Katastrophen nicht abwenden. Auch Kerstin Stakemeier, die in ihrem Essay die historische Figur der immateriellen Arbeit und ihre Rolle im kognitiven Kapitalismus einer eingehenden Betrachtung unterzieht, sieht wenig Anlass zu Optimismus. Sind es doch der Verlust jeglicher Zukunftsperspektive und das Syndrom des „verschuldeten Menschen“ (wie sie in Anschluss an Maurizio Lazzarato hervorhebt), welche die katastrophische Gegenwart über alle akuten Finanzdebakel hinaus bestimmen.
Hat der Semiokapitalismus also ein Szenario geschaffen, in dem ein Außerhalb bzw. seine zukünftige Überwindung nicht einmal mehr ideell vorstellbar sind? Franco Berardi „Bifo“ greift den Aspekt der sogenannten Neuroplastizität auf, sprich der Formbarkeit des mentalen Apparats nach kapitalistischen Parametern, um ein zentrales Dilemma der Gegenwart herauszustreichen: Zurichtung des Geists nach Kriterien zunehmender Automation und Entfremdung, oder aber – ähnlich wie Moulier Boutang dies suggeriert – Selbstorganisation des „Kognitariats“ hin zu einer neuen Form von Kollektivität? Warren Neidich, der eine Reihe von Konferenzen zum Thema organisiert hat und dem an dieser Stelle für wertvolle Anregungen zu dieser Ausgabe gedankt sei, legt den Aspekt der Neuroplastizität auf Fragen der künstlerischen Produktion und nicht-normativer Verhaltensmuster um. Damit ist noch einmal ein umfassenderer Komplex angesprochen: Stimmt es beispielsweise, dass diese neue Gesellschafts- und Wirtschaftsform ihre ureigensten, zuvor nicht da gewesenen Pathologien hervorgebracht hat? Und inwiefern hat die Kunst einer Steigerung des kognitiven Kapitals nicht immer schon zugearbeitet – oder dieses vielleicht doch stets unterwandert?
Jedenfalls attestiert Neidich der Kunst ein Potenzial der Störung und Unterbrechung in Bezug auf den neuen Kapitalismus, das vermutlich von Fall zu Fall eigens zu beurteilen wäre. Ein Bereich hingegen, der sich bislang der Kapitalisierung weitgehend entzogen hat, ist der des Schlafs. Matthew Fuller und Alexei Penzin befassen sich beide, auf unterschiedliche Weise, mit dieser scheint’s letzten Bastion gegen den alles verschlingenden Drachen. Inwiefern dem Schlaf tatsächlich eine disruptive Kraft eignet, bleibt eine spannende Frage – wobei es nicht weiter überraschen würde, wenn auch in diesem Fall ein vermeintlich uneinnehmbarer Bereich letztendlich dem Kapital anheimfiele.