Heft 3/2015 - Artscribe


Robin Vanbesien – Gravidade

12. Februar 2015 bis 22. März 2015
Lumiar Cité / Lissabon

Text: Bojana Cvejic


Lissabon. „Beim Ausdruck Mord denkt man nicht selten ans Meer und an Matrosen. / Meer und Matrosen traten mir zuerst aber nicht klar vor Augen. / Vielmehr hatte ich beim Wort ‚Mord‘ das Gefühl, auf Wellen dahin zu treiben ...“
Mit diesen Worten beginnt eine Monodie, ein Strom von Wechselstimmen, deren erhaben langsames und schwermütiges Portugiesisch ein Poem im Ausstellungsraum abzirkelt. Im Rhythmus unterbrochen wird es von sieben Gemälden. Die Stimmen kommen von einem Video, das Gravidade heißt und wie ein achtes Gemälde wirkt. Es ist ein Bild, das sich aus der Raummitte ergießt und die sprachliche Fiktion in dramatische Bilder übersetzt.
Zwei junge Männer kommen ins Bild. Sie befinden sich im desolaten Hafen am Fluss Tejo. Der Himmel ist bedeckt. Eine Geschichte wird erzählt. Die Bilder, die sie evoziert, sind so vage wie das erzählende Ich. Die Kamera schwenkt auf einen dritten Mann, der seine Augen gesenkt hält. Er wirkt fremd, von den anderen isoliert. Der Bilderfluss findet in ihm seinen verhaltenen Sprecher, „ein Sohn, der das Bild seines Vaters aus der unendlichen Kraft der Ausschweifung des Sehens, Wollens und Empfindens rekonstruierte“.
Bevor man in dieser labyrinthischen Fantasie versinkt, bringt der Blick schnell das Video mit den Gemälden in Verbindung. Er sieht Hoden, die wie eigentümliche Früchte vor undeutlichen Landschaften baumeln, und Penisse, die wie eine Gruppe Linien aus dem Nichts ragen. Auch sind da Andeutungen einer Hand, die auf einer Schulter ruht, das Profil eines Männerkopfs vor einem zweiten, eine lüsterne Zunge, ein maskiertes Gesicht in der konvulsivischen Pose körperlicher Ekstase. Die Gestalthaftigkeit dieser Teilobjekte oder Teilkörper dienen als Fixpunkte, die den Blick auf eine abstrakte Landschaft abstecken. Zugleich verschwinden sie in grellen Farben und eilig hingeworfenen Pinselstrichen und schwingen sich mit den Worten ein, die durch den Raum hallen.
Die Geschichte, die in Gravidade erzählt wird, ist ebenso vage, fragmentarisch und entrückt wie die ineinander verschwimmenden Figuren auf den Gemälden. Eine homoerotische Anekdote über einen Matrosen, der einen „jungen, schönen und makellosen“ Miguel aufreißt, um mit ihm zu ficken. Eine obskure Geschichte über einen Mord in der Halbwelt eines Hafens. Die Erinnerung an einen Tabubruch, an einen Vater im homosexuellen Geschlechtsverkehr auf einem Schiff, „auf dem man tun konnte, was man wollte, sogar morden“. Ein Sohn, der seinen deliranten Tagtraum – einem Bild im Bild gleich – auf seinen Vater projiziert. Dieses Repertoire psychoanalytischer Motive suggeriert Bezüge zu Jean Genets (und Fassbinders) Querelle oder vielleicht sogar Kathy Ackers Verbindung von Lust mit Matrosen, die im Rhythmus der Wellen Sex haben.
Vanbesien verschweigt die Bezüge zu Acker und Genet nicht, sie bieten jedoch keinen historischen Interpretationsstrang, an den man sich festhalten könnte. Stattdessen drängt sich vorderhand eine psychoanalytische Lesart auf, laut der die Vaterfigur als Imago auftritt, als Verdichtung der fernen, dunklen, exotischen, abgetakelten, phantasmatischen und gefährlichen Bilder, die sich das Subjekt als Vaterideal und zugleich als gestörten Vater aufbaut. In dieser klassischen psychoanalytischen Rollenverteilung wäre das Subjekt der Sohn, der die verschobene Fantasie der Urszene genießt, in der er seinen Vater mit einem Mann namens Miguel (anstatt seiner Mutter) beim Sex ertappt. Stattdessen werden wir aber verleitet zu glauben, dass es sich um die Suche nach dem abwesenden Vater handelt, der als totales und allwissendes Objekt fehlt. Wie ein Matrose entgleitet er dem Sohn immer wieder und sexualisiert dessen Begehren, nur um gemalten oder gesprochenen Fantasien Form zu verleihen und sie wieder aufzulösen – ihnen einen Namen zu geben und diesen Namen wieder zu entziehen.
Die Anziehungskraft psychoanalytischer Begriffe wird hier benutzt, um ein ganz anderes Drama zu inszenieren. Dieses Drama zeigt, dass jede Bedeutungsgebung phallisch ist, und zwar nicht, weil der Phallus Träger des symbolischen Gesetzes wäre, sondern weil er das gesuchte Objekt als abtrennbares und veränderliches Teilobjekt, als einen Teilkörper erweist. Mit „Teilobjekten“ meine ich die nicht-ödipale Wunschproduktion, einen unpersönlichen Fluss, aus dem die Teilkörper als bruchstückhafte und unrepräsentative Akteure ragen. Diese Wunschproduktion ist notwendigerweise autoerotisch, das heißt ein Begehren ohne Objekt, was beweist, dass es keinen einfachen oder vorgegebenen Weg gibt, der das Subjekt zur körperlichen Umsetzung seines Wunschs zu verstehen oder zu empfinden oder sich zu verbinden bringt. Motto: „Alles, was zählt, soll Sexualität sein, wo immer und wann immer sie sich zeigt.“
In der Verschmelzung von homoerotischem und autoerotischem Begehren wird die Sexualität zur Metapher einer gesteigerten Schaulust zwischen dem beobachtenden Subjekt und dem beobachteten Objekt, zwischen Sohn und Vater. Sobald der dritte Mann im Video sagt „ich, alles, was ich bin, lag in aller Sichtbarkeit vor ihm, als ein Ding unter anderen Dingen in seiner Außenwelt, ohne dessen plastisch-bildliche Einheit zu stören“, wird die Beziehung zwischen Sehendem als Subjekt und dem Gesehenen als Objekt umgedreht. Weil sein Sehen alle Teilkörper mit ozeanischer Wucht voneinander trennt und neu verbindet, muss der Sehende sein Sehen als umgrenztes und einheitliches Ich aufgeben, bevor er seinen Blick wie ein Deleuze’sches „Objektil“ in eine Reihe zusammenhängender Teilkörper einreihen kann. Erst dann gleitet der Blick des Sehenden wie auf der verdrehten Oberfläche eines Moebiusbands dahin und wechselt unbemerkt zwischen dem Innen und Außen des Wahrnehmens.
Treten wir also aus der Schwerkraft dieser theoretischen Fiktion heraus, um die Bilder wirklich von außerhalb der Glaswände der Lumiar Cité zu betrachten. Unmerklich dräut uns da ein anderer Gedanke. Worte, Formen, Farben und Linien beginnen nämlich als malerische Allegorie zu schweben. Wenn es Augen sind und nicht Hände, die malen, wie es Vanbesien gesagt hat („Ich male mit den Augen“), dann müssen sich Worte, Formen, Farben und Linien in Zeitbilder, Gesten und Worte fortsetzen, die „sich verschiedene Körperteile einschneiden“. Gravidade ist als Ausstellung konzipiert, deren Teilobjekte die Konstruktion eines dramatisierten zeitimmanenten Blicks in Szene setzen.

Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Raab