Heft 1/2017


The Post-Curatorial Turn

Editorial


Kaum eine Figur hat die Kunstwelt der letzten Dekaden so beherrscht wie die des Kurators bzw. der Kuratorin. Sie war es und ist es häufig immer noch, die im Mittelpunkt des Ausstellungsgeschehens steht; ihre Autorität und Autorschaft scheinen in den institutionellen Gefügen des etablierten, aber auch des Off-Betriebs nach wie vor unverzichtbar. Vielfach wurde über die Jahre Kritik an dieser Zentral- und Vormachtstellung geübt, ja ihr Primat gegenüber KünstlerInnen oder den verzweigten Zusammenhängen, die das System Kunst überhaupt erst ausmachen, beklagt. Selten jedoch wurde über das tief verwurzelte Kuratormodell hinausgedacht, wurden alternative Formen des Kunst-Zeigens oder dessen Einbettung in größere Zusammenhänge ernsthaft in Erwägung gezogen.
Dennoch zeichnen sich in letzter Zeit, zumeist auf praktischer Ebene, zunehmend andere Formen der Kooperation im Ausstellungsfeld ab: Praktiken, die über das singuläre Autorschaftsprinzip des Kurators bzw. der Kuratorin hinausgehen und andere Formen der Kunst- und Wissensvermittlung erproben. Diesbezüglich stellt sich die berechtigte Frage, ob wir, angesichts dieser vielerorts zu beobachtenden Ansätze, an der Schwelle eines „Post-Curatorial Turn“ stehen. Oder ob ein solcher „Turn“, der oft etwas vorschnell in allen möglichen Feldern konstatiert wird, im Bereich des Ausstellungsmachens bzw. des Präsentierens von Kunst abseits ihrer gewohnten Formate bereits zu greifen begonnen hat.
Simon Sheikh steckt in seinem Essay den theoretischen Rahmen ab, in dem sich die Rede von der „postkuratorischen Wende“ sinnvollerweise zu bewegen hat. Sheikh nimmt zunächst eine Reihe von Differenzierungen vor: zwischen dem weiter gespannten Bereich des „Kuratorischen“ (im Unterschied zu eindimensional festgeschriebenen Modellen des „Kuratierens“) und dem „Parakuratorischen“ als einer über das Ausstellungssetting hinausgehende Wissens- und Diskurskonstellation. Erst in dieser erweiterten Perspektive wird ersichtlich, inwiefern und auf welcher Basis eine mögliche „postkuratorische“ Formation in Erscheinung treten kann – eine Basis, die im Übrigen viel mit gegenwärtigen Wirtschafts- und Beschäftigungsverhältnissen zu tun hat.
Einer, der den Begriff des Postkuratorischen schon länger für die von ihm mitgetragene Praxis verwendet, ist Vasif Kortun, bis 2017 Leiter des Istanbuler SALT. Kortun zeichnet in seinem Beitrag die Konturen des Begriffs und seiner Brauchbarkeit für (post-)kuratorische Unternehmungen nach – mit Bedacht darauf, aus der Bündelung bestimmter, schon länger kursierender Ideen nicht eine neue Form von Orthodoxie entstehen zu lassen. Dass der über herkömmliche Ausstellungsformate hinausgehende Ansatz von Vasif Kortun kein Einzelfall ist, rekapituliert Kaelen Wilson-Goldie. Die Autorin fasst in ihrer kurzen Rundschau Praktiken wie jene des SALT, aber auch die von Ashkal Alwan in Beirut oder von Townhouse in Kairo als vielversprechende, teils aus der Not geborene Taktiken zusammen: Formate, die den gewohnten Ausstellungsbetrieb konterkarieren, zum Teil, weil dies infrastrukturell nicht anders möglich ist, zum Teil aber auch, weil man sich dem kunstinstitutionellen „Machtpol“ des Autor-Kurators bzw. der Autor-Kuratorin verwehrt. Dies untermauert auch das Gespräch mit der von Jakarta aus agierenden ruangrupa, die diesem Dispositiv ein komplexes Gebilde partizipatorischer, netzwerkbasierter Verhandlungsprozesse entgegenhält. Bemerkenswert ist, dass ruangrupa, Paradebeispiel eines postkuratorischen Kollektivs, der scheint’s naheliegenden Idee von hierarchieloser „Horizontalität“ skeptisch gegenübersteht.
Welch hochgradiger struktureller Überforderung der Autor-Kurator heute in westlichen Institutionen ausgesetzt ist, bringt Vit Havránek in seinem Essay zur Sprache. Havránek skizziert ein scheinbar dem fordistischen Prinzip verpflichtetes Fließbandmodell von Kunstpräsentation, in dem schlussendlich alle Beteiligten bildlich gesprochen unter die Räder kommen. Eine postfordistische Neuausrichtung – Stichwort Flexibilisierung und Prekarisierung – scheint die Sache noch zu verschlimmern, können doch die darin involvierten Subjekte ihren Anforderungen immer weniger gerecht werden. Abhilfe, so Havráneks Diagnose, könne nur eine neue, auf heutige Verhältnisse zugeschnittene Form von „institutioneller Therapie“ schaffen, eine Art Selbstheilung, deren analytische Mittel jedoch erst geschaffen werden müssen.
Analytische Ergänzungen der Thematik finden sich in den Beiträgen von Magda Tyzlik-Carver und Moritz Scheper. Tyzlik-Carver fragt nach den Bedingungen, denen das „Kuratorische“ in zunehmend digitalisierten und netzwerkbasierten Verhältnissen ausgesetzt ist. Ihr provokantes Fazit lautet, dass sich gegenwärtig eine über alle menschliche Autorschaft hinausgehende kuratorische Instanz, ein „posthumanes Kuratieren“ abzuzeichnen beginnt. Am anderen Ende dieser Ungleichung setzt Moritz Scheper an. Er analysiert und belegt anschaulich, inwiefern heute KünstlerInnen ein bestimmtes Maß an Deutungshoheit über ihr Werk zurückzugewinnen versuchen: und zwar anhand der Artist Novel, die gegenwärtig großen Zuspruch, sowohl produktions- als auch rezeptionsmäßig, erfährt.
Übergreifend wird an den Beiträgen dieser Ausgabe deutlich, wie sehr das neu erwachte Interesse für die genreübergreifende Entwicklung von Ausstellungsformaten und Präsentationsformen mit neuen selbstorganisierten, parainstitutionellen Konstellationen zusammenhängt. Alternative Lehr- und Lernpraxen spielen darin eine ebenso zentrale Rolle wie eine neu definierte „postkuratorische“ Handlungsmacht, in deren Aufbau der Einzelkurator bzw. die Einzelkuratorin nur noch ein Bestandteil von vielen ist.