Heft 4/2018 - #Fortschritt


Climate Games

Event statt Fortschritt

Yvonne Volkart


Mitten in der Durchgangszone des Hauptbahnhofs Zürich strebt ein riesiges, transparentes Geflecht in die Höhe. Es ist aus verschiedenen erdfarbenen Bändern gehäkelt und geknüpft, wirkt monumental wie ein Atompilz und locker gewebt wie ein Spinnennetz. Die PassantInnen bleiben stehen, staunen, möchten hineingehen. Drinnen wirkt alles anders: Mit ausgezogenen Schuhen hockt oder legt man sich auf die Kissen am Boden, schaut und hört sich um, während der Lärm der Welt nur noch wie von fern mitschwingt.
GaiaMotherTree ist ein Baum, eine Verheißung, ein Raum, der eine temporäre Zone von Inklusion und Öffnung zugleich schafft. Es ist ein Kunstwerk im öffentlichen Raum, das der brasilianische Künstler Ernesto Neto im Auftrag der Fondation Beyeler Basel mithilfe von 17 HandknüpferInnen geschaffen hat. Inspiriert vom Handwerk und der Spiritualität indigener Völker aus dem Amazonas schafft es Bezüge zur Göttin Gaia der griechischen Antike, der Gaia-Theorie der Tiefenökologie der 1970er-Jahre sowie neuesten Erkenntnissen aus der Pflanzenforschung, die besagen, dass Bäume in Gesellschaften mit verschiedenen Arten leben und kommunizieren.
GaiaMotherTree könnte für eine Art von Fortschritt stehen, der auf Rückschritt setzt: ausbrechen aus dem technokapitalistischen Zwang zur Innovation und sich rückbesinnen auf das, was schon da ist, was unterdrückt und ausgebeutet wird. Das Projekt steht symptomatisch für ein fortschrittskritisches, dekolonialisierendes Denken, das tradiertes Wissen in die Künste miteinschließt und mit aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungen verbindet. Nicht nur Design, Kunst und Medizin öffnen sich in Richtung indigenen Wissens, sondern die gesamte Welt sieht sich mit politischen Forderungen der Indigenen nach einem global geltenden „Naturrecht“ konfrontiert. Jenseits herkömmlicher Vorstellungen von Umweltschutz offenbaren diese Forderungen, dass es weltweite, sich aus „Nischen“ heraus konstituierende Bewegungen gibt, die mit nichts anderem als ihrer je besonderen Lebensweise dem globalen Kapitalismus entgegentreten. Diese Bewegungen, Praxen und Künste postulieren alternative Zeitlichkeiten, die nicht auf dem Zwang zur Produktivität gründen. Sie versuchen, eine politisierte Art der Sorge, des Mit-Seins und der Relationalität mit nicht menschlichen Wesen zu leben. Wie die Soziologin María Puig de la Bellacasa festgehalten hat, sind diese Zeitlichkeiten nicht „slow“, im Sinne von Slow-Food als Lifestyle-Möglichkeit in Zeiten kapitalistischer Produktionslogik. Sie stellen auch keinen Rückzug in eine private Nische dar, sondern sind Herausforderung und Außerkraftsetzung der dominanten Verwertungslogik.1
Anstatt um eine „andere“ Art von Fortschritt geht es hier also um transversale Bewegungen, um „Verkettungen“ (Gerald Raunig), um die Inklusion vieler Zeiten und die Produktion von Präsenz. Hilfreich ist dabei Isabelle Stengers‘ Begriff des „Events“.2 Er stammt vom Lateinischen evenire ab und bedeutet „herauskommen“. Der Event ist das Sich-Ankünden eines Ereignisses, das Werden der Dinge und ihr Zusammenkommen in bestimmten Raum-Zeit-Verkettungen.
In der Ökologie, das heißt dem oikos oder profanerweise dem Haushalt, geht es immer um das Ereignis des Werdens – deswegen ist die ökologische Perspektive so wichtig: Nur wenn zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort bestimmte AkteurInnen zusammenkommen, erfüllt sich deren Sein. Ein Samen kann jahrelang daliegen, warten, nichts passiert. Erst wenn mehrere Faktoren „stimmen“, geht er auf. Wer gärtnert, macht dieser Erfahrung immer wieder. Wenn Pflanzen – infolge des Klimawandels – verschwinden oder migrieren und das Tier, das diese Pflanze frisst, keine Nahrung mehr findet, stirbt dieses oder zieht ebenfalls weiter. Andere kommen, passen sich an. Das sind Verkettungen, Events, keine Fortschritte.
Im Folgenden möchte ich meine Aufmerksamkeit auf Formen des Werdens in anderen Raum-Zeit-Gefügen richten und aufzeigen, dass eine ökoästhetische Perspektive es mit dem Katastrophischen unserer Zeit aufnehmen kann.

Paradoxe Ausgangslage
GaiaMotherTree wurde in den zahlreichen Medienberichten unpolitisch rezipiert. Im besten Fall wurden das Gefühl der Verbundenheit mit der Erde und der sorgsame Umgang mit ihr hervorgehoben. In den unkritischsten wurde die Skulptur zum Schoß, in dem man sich von der Hetze der mobilen Welt erholen konnte. Und dies, obwohl die Baumartigkeit mit den herunterhängenden Gewürz- und Samenkegeln und die Anwesenheit indigener Abgesandter an den Eröffnungstagen durchaus Anspielungen an den Raubbau im Regenwald und die Saatgutkriminalität beinhalten. Dadurch, dass Neto die eigenen Produktionsbedingungen nicht reflektiert, mag er solche Interpretationen mitbedingen – so kursierten auch Gerüchte, dass die indigenen Mitarbeitenden nicht ordentlich bezahlt werden. Darüber hinaus kommt GaiaMotherTree mit seinem Erfahrbarmachen von Spiritualität recht holistisch daher. Und doch liegt gerade darin eine Kraft, die einen Event ausmacht: Wir Versammelten wurden schlicht mitgerissen von den mantrahaft gebeteten und getrommelten Gaia-Anrufungen der bemalten und mit Federn und Ketten geschmückten Abgesandten.
Spiritualität und Kunst können helfen, zu einer anderen Haltung gegenüber unserer gemeinsam bewohnten Welt zu kommen. Sie können uns teilnehmen lassen am Werden der Dinge und uns rüsten für den Kampf gegen Ausbeutung. Es sind dieses Außerkraftsetzen rein rationaler Konzepte und das ästhetische Insistieren auf Empathie, Sorge und Verbundenheit mit nicht menschlichen Wesen, die unsere gegenwärtige Zeit bemerkenswert machen. Das gibt Anlass zu jener politischen Hoffnung, die die Umgestaltung der Gegenwart und Befreiung der Zukunft aus dem Zwang der Vergangenheit ermöglicht. Solche Affekte von Teilhabe sollten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln hervorgerufen werden – mit aktivistischen und spirituellen, kämpferischen und spielerischen, ästhetischen und religiösen, medientechnologischen und handwerklichen. Vielleicht ist gerade dieser aktuelle Umstand verheißungsvoll: dass wir, in einer Zeit der Ausweglosigkeit und der Widersprüche lebend, uns auf Widersprüchlichkeit, Humor und Flexibilität in den Strategien berufen müssen. Dass wir nicht, wie die AnhängerInnen des Technokapitalismus, auf die Versprechen innovativer Technologien setzen können, dass wir es aber auch nicht ohne Technologien machen werden können.
Im Angesicht der Dringlichkeit der Lage und im Wissen, dass es die eine Lösung nicht gibt, liegen gerade im Neben- und Durcheinander von alten und neuen Techniken, von ästhetischen Praxen und aktivistischen Kämpfen Chancen. Wir durchleben heute nicht nur eine seltsame Mischung an Hilflosigkeit, Komplizenschaft und gesteigerter Aufmerksamkeit gegenüber den kleinen Dingen, sondern wir lernen auch, diese Paradoxien anzunehmen und als die Mittel unserer Zeit zu verstehen. Ob das schon jene Mentalitätsänderung ist, die Félix Guattari als eine der ökosophischen Grundbedingungen für eine Systemänderung vorschlug? Tatsächlich ist trotz einem halben Jahrhundert Gaia-Hypothese, Tiefenökologie und Umweltbewegungen, die auch schon einmal Bäume umarmt und Indigenen zugehört haben, alles noch düsterer geworden. Angesichts der totalen Plastifizierung der Welt ist mein partielles Einkaufen in No-Waste-Läden kaum ein Event, auch wenn man einen daraus machen könnte, und das Umsteigen auf einen Tesla ist gerade einmal jene Art von Fortschritt, die dem Fortschrittsdenken sowieso eingeschrieben ist: Optimierung und Verlagerung des Problems auf Kosten von anderen.

Trauern und spüren
Abstrakte Bilder, Muster, Pools, die von Giftgrün zu Azurblau wechseln – ein Drohnenflug über die Salzpfanne im bolivianischen Hochland, seit Kurzem erst Ort der Lithiumgewinnung. Eine tragende Frauenstimme spricht in gebrochenem Englisch. Sie erzählt vom Urknall, bei dem jene Elemente freigesetzt wurden, um die heute so hart gekämpft wird, von Lithium, das man in ungeheuren Mengen für die Lithium-Ionen-Batterien der Elektroautos und dergleichen „grünen“ Technologien brauchen wird, von der Salzwüste in den Anden, die das begehrte Lithium birgt, und den Bergen, die für ihr Volk heilig sind. Sie erzählt den Mythos, der die Entstehung dieses unfassbaren Plateaus zu begreifen sucht: Es sind die Tränen, die die Vulkanmutter ihrem Liebhaber nachweinte, als er sie verließ, vermischt mit ihrer Muttermilch, die ausfloss. We Power our Future with the Breastmilk of Volcanoes/Lithium Dreams (2015/18) der englischen Künstler- und Designergruppe Unknown Fields Division lässt astronomische, geologische, mythische und kapitalistische Zeit- und Raumdimensionen aufeinanderprallen. Die Schönheit der Bilder und die Ruhe der fremdartig klingenden Stimme brechen mit der Unverhältnismäßigkeit des Rohstoffabbaus, der in kürzester Zeit den Ort zerstört haben wird, an dem bisher mythische Dimensionen und astronomische Zeiten geherrscht haben. Das Zusammentreffen von Mythos (Muttermilch) und Fortschritt (Lithium) und das Unpassende und Kollidierende ihrer Ineinssetzung im Titel generieren eine „wüstenartige“ Stimmung von akutem Schmerz. Darin wiederholt sich die uralte Trauer des Bergs, sein trostloses Weinen – mit einer Variation: Der Verlust des Geliebten des Bergs wird zum Diebstahl an einem Volk, das andere Werte und zugleich weniger Rechte hat.
„If mourning is to be a passage to political action, reason and feeling have to be engaged together“, schreibt Gene Ray.3 In Chris Jordans Film Albatross (2017) trauert man mehr als rational. Der Filmer und Fotograf besuchte über zehn Jahre lang das am Rande des Great Pacific Garbage Patch gelegene Midway Island. Es ist eine 2.000 Meilen vom Festland entfernte Insel von brütenden Albatrossen. Da die Vögel keine Feinde fürchten, ließen sie Jordan gewähren: Wir sehen ihn beim Filmen ihrer Brutpflege, Küken werden gefüttert, es wird geschnäbelt, voller Zärtlichkeit, Intimität und Fürsorge. Wir sehen einen Vogel daliegen, leiden. In hartem Schnitt- und Gegenschnittverfahren erleben wir, wie Jordan den toten Körper aufschneidet und alle Arten farbiger Plastikteile herausholt: Der Vogel hielt sie für Nahrung. Dutzende, Hunderte von Vögeln liegen da, inmitten des Plastiks, atmen, sterben. Jordan hält alles fest. Die Atemlosigkeit seines Dokumentierens kollidiert mit der unendlich scheinenden Langsamkeit der Filmsprache, die uns in eine ganz andere Wahrnehmung von Zeit hineinzieht. Vorher und nachher parallelisierend, weiß man nicht mehr, was nun gilt: Ist es die Aufmerksamkeit dieser Vögel füreinander, ihr sinnloses Sterben, die schiere Menge farbigen Plastiks oder das Freiheitsversprechen ihres Flugs? Man „spürt“ nur, wie man sich hingibt, „verschenkt“, mit-leidet.

Den Planeten heilen
In Albatross sind die Vögel (und der Filmer) zu einer Sorge fähig, die jene Menschen, die die anderen zumüllen (wir?), nicht haben. Doch es wäre falsch, deswegen die gute Natur gegen den bösen Menschen auszuspielen. ÖkofeministInnen warnen vor solchen Weiterführungen der Natur-Kultur-Dichotomie, wie sie im Anthropozändiskurs implizit mitschwingt. Dieser setze stillschweigend den homo sapiens mit dem homo oeconomicus und dessen universalistischen Anmassungen“4 als Mannmensch gleich. „Wer ist dieser Anthropos, der seine eigene Existenz an den Beginn der industriellen Revolution setzt oder an irgendeine andere Markierung, die er selbst fabriziert hat?“, fragt Claire Colebrook.5 „Industrial man“, „nuclear man“ „consumer man“ könne nicht für sich beanspruchen, die ganze Menschheit zu repräsentieren. Anders gesagt: Ausbeuten – und das Anthropozän ist der geologisch nachweisbare Effekt bestimmter Formen von Ausbeutung – ist eine Frage des Wirtschaftens und keine der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Spezies, auch wenn der Kapitalismus von Mitgliedern der menschlichen Art dominiert wird.
Aus diesem Grund erscheinen Projekte, in denen menschliche Wesen als Sorge tragende dargestellt werden, besonders relevant. Menschen haben so viele Qualitäten, schreibt Jeremy Rifkin, die im Materialismus abgewertet werden. Sie sind nicht nur eigennützig „vom Bedürfnis nach Autonomie“ getrieben – „alles Eigenschaften, die uns, jeder als Insel für sich, zur Anhäufung von Wohlstand prädisponieren“ .6 Gemäß neuen Studien seien wir „die geselligsten aller Kreaturen; wir sehnen uns nach Gesellschaft und sozialer Einbettung“7. Menschen können auch heilen, heißt es in Costa Boutsikaris’ Dokumentarfilm INHABIT: A Permaculture Perspecive (2015) über permakulturelle Praxen in den USA. Gemeint ist damit nicht, dass die Menschen sich nun zu den großen Rettern des Planeten aufspielen sollen in der Meinung, dass ohne sie gar nichts mehr geht, sondern dass man im Wissen um die eigene, kreatürliche Eingebundenheit in das Werden sich auf das bezieht, was akut ist. Im Permakulturdesign, sprich agrokulturellen Praxen, die auf Erneuerung und nicht Ausbeutung gründen, bedeutet das beispielsweise, dass man sich um den durch Düngemittel ausgelaugten Boden kümmert und ihm hilft, sich in humose Erde voller Lebewesen zu verwandeln. INHABIT führt viele solche Beispiele eines speziesübergreifenden Füreinander und Miteinander vor. Es sind, wie der Filmtitel sagt, neue Methoden des Bewohnens und Zusammenwohnens. So forschen alle ProtagonistInnen nach Methoden und Technologien, um mittels eines orchestrierten Zusammenwirkens der vielen zu einer anderen Produktionsweise zu kommen. Im Unterschied zu herkömmlichen technischen Lösungen in der Agrarwirtschaft, die labor- und computergenerierter Forschung entstammen, setzen diese Methoden auch auf körperliche Immersion mit allen Sinnen, auf Beobachten und auf Warten-Können auf das, was sich entfalten können wird.8
Der feministische Science-Fiction-Film Pumzi (2009) der kenianischen Künstlerin Wanuri Kahiu ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus einer postkolonialen Positionierung eine Ökologie der Sorge9 formulieren lässt. Der Kurzfilm handelt in einer dystopischen Kontrollgesellschaft der Zukunft. Wasser ist rar, deswegen wird es permanent aus den Körperausscheidungen recycelt, und auch Strom muss mittels Muskelkraft produziert werden. Die Menschen leben in einem abgeschotteten Technobunker, da der Planet zu einer radioaktiv verseuchten Wüste geworden ist. Dann erhält die Protagonistin ein anonymes Paket mit Erde und einem Samen. Deren Geruch erweckt in ihr die Vision eines anderen Lebens. Ihre Sinne beginnen, eine zentrale Rolle zu spielen, sie „spürt“ etwas und überprüft das auch mit ihren Messgeräten. Täglich wässert sie die Erde und sieht dem Wachsen der Pflanze zu. Voller Hoffnung bricht sie aus der geschlossenen Überwachungsgesellschaft aus und macht sich auf die mühevolle Suche nach einem geeigneten Ort, um ihren Baum zu pflanzen. Sie gibt dem „Mother Tree“, wie es heißt, ihr letztes Wasser und legt sich sterbend bei ihm nieder. Wie in GaiaMotherTree oder We Power our Future with the Breastmilk of Volcanoes/Lithium Dreams operiert auch dieser Film mit mythischen Bildern. Wenn die Protagonistin in der Wüste ist, windet sie sich wie ein Wüstenmensch ein Tuch um den Kopf gegen die sengende Sonne. Die aus der Abschottung stammende Technofrau wird umweltbezogene, urtümliche und lebensspendende Mutter, die ihre Vergangenheit dekolonialisiert und Artengrenzen überschreitet. Ihr Körper wird zu einem „Event“ verschiedener, gleichzeitig wirkender Zeiten und Räume. So gesehen erscheint ihr Tod weniger als Ende eines Werdens denn vielmehr als Vervielfältigung ihres Menschseins in Richtung einer pflanzlichen Zukunft, die unbestimmt bleibt.

Jeder Zyklus ist ein Event
Die Dimensionen von Vergehen und Werden führen in Pumzi zu einer zyklischen Zeitstruktur. Zyklen sind für gärtnerische Praxen, die dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen sind und die für die Bodenpflege Kompost benötigen, nicht nur zentral, sondern bedeuten eine ganz andere Strukturierung und Erfahrung von Zeit. María Puig de la Bellacasa weist darauf hin, dass Permakulturdesign eine Praxis alternativer Zeitproduktion ist, durch die sich auch das Verhältnis zu Arbeit, Produktion und Lebensführung wandelt. Beim Gärtnern ist das über verschiedene Zyklen hinweg reichende Beobachten und Experimentieren fundmental – um herauszufinden, wie sich die verschiedenen Komponenten und Lebewesen zueinander verhalten und aneinander anpassen lernen. „Jeder Zyklus ist ein Event“, schreibt sie.10 Beim Sich-Einlassen und Teil-Werden der jeweiligen (Boden- oder Landschafts-)Situation macht man die existenzielle Erfahrung, dass man nicht allein ist: Menschliche und nicht menschliche Wesen arbeiten innerhalb ökologischer Relationen zusammen, lernen voneinander, gedeihen. Doch eine solche Hingabe an die Welt braucht Zeit. Zeit, um, wie Puig de la Bellacasa festhält, die Diversität all jener Zeit- und Raumskalen zu erfahren, die gleichzeitig mit im Spiel sind. Diese Mannigfaltigkeit lässt sich nicht mit dem Begriff des Fortschritts fassen. Aus der Perspektive eines Regenwurms sind beschleunigende Düngemittel ein Wachstumshemmer, schreibt Puig de la Bellacasa.11
Der Dokumentarfilm Wild Plants (2016) des Schweizer Filmemachers Nicolas Humbert zieht uns ästhetisch in solche unterschiedlichen Zeiten und Räume hinein. Inhaltlich stellt der Film verschiedene, vor allem urbane, gärtnerische Praxen vor. Da ist einerseits die vorgeführte zyklische Zeit, die von einem Winter bis zum nächsten Winter dauert, da sind die erzählten, disruptiven Zeiten der ProtagonistInnen, und da ist die präsentische Jetztzeit, die man beim Zuschauen erlebt. Der Film ist sehr langsam strukturiert, er moduliert die Rhythmen und Wiederholungen, von denen er handelt, das nächtliche Samenauswerfen des Zürcher Guerillagärtners Maurice Maggi, das gemeinsame Umgraben der Erde in Detroit oder die von Hand getätigte, repetitive Erntearbeit eines Kollektivs bei Genf. Der Sound (von Zeitblom) und Bildabstraktionen lösen wiederholt den Zusammenhang auf. Diese „Verluste“ lassen uns erfahren, dass zeitweise alles möglich wird. Wie der Samen, der aufgeht oder nicht, oder das Pharmakon, das vergiftet oder heilt. Die von den Leuten vorgeführten widerständigen Lebensweisen verdichten sich mit der audiovisuellen Taktung zu einem Werden, dessen Teil wir unmittelbar sind.

Zusammenkommen und Wachsen
Aus ökoästhetischer Perspektive geschehen Events dort, wo in der Verkettung spezifischer Zeiten, Räume und AkteurInnen Unvorhersehbares möglich wird. Gegen den algorithmisch programmierten Hyperindividualismus und die ruhelose Optimierung des eigenen Materialismus stehen Techniken der Immersion mit anderen und Rituale der Verschwendung des Persönlichen. Momente des Werdens und des Wachsens. Wachsen heißt nicht nur, sich unendlich auszubreiten, sondern auch hartnäckig zu überleben in katastrophischen Zeiten. Dies macht Matthew Gandys Dokumentarfilm Natura Urbana – Die Brachen von Berlin (2017) deutlich. Am Beispiel von Berlin zeigt der Film auf, wie der Schutt, die Trümmer und die Mauer ein Stadtbiotop von besonderer Mannigfaltigkeit geschaffen haben. Die Geschichte Berlins ist, wie deutlich wird, auch eine Geschichte von Pflanzen und deren Verbindung zu den Menschen und ihrer Politik. Viele sind als Kulturfolger gekommen: in Eisenbahnwaggons voller Heu aus Sibirien für die Pferde der russischen Besatzung, in militärischen Versorgungskisten der US-Truppen oder in Koffern aus Neuseeland. Berlin als vielfältige Biosphäre, das evoziert nicht nur der Blick der Kamera, der über Brachen und Waldstücke, Mauerritzen und Protestbewegungen gleitet und noch im verstecktesten Winkel etwas Buntes aufspürt, sondern auch der vielstimmige Sound, begleitet von dem, was die Leute erzählen oder politisch einfordern. Die Brachen, das sind botanische Nischen, Freiräume, gelebte Orte der Inklusion und Öffnung, des Durchgangs und des Werdens. Immer wieder, bis heute, haben hier vielfarbige Bürgerbewegungen Ansprüche formuliert und die Versiegelung der offenen Räume bekämpft.
Die vielgefürchteten Neophyten, also jene Pflanzen, die einwandern, weil sie unautorisiert die Infrastrukturen der Menschen benutzen, „hießen vor 100 Jahren Adventivpflanzen“, sagt die Kulturhistorikerin Susanne Hauser in dem Film. Sie mag den Begriff, weil er, ohne die Gefahr der Invasion der Fremden zu bemühen, einfach das Ankommen festhält. Advenire gehört wie evenire zum selben Wortstamm venire, kommen. Etwas kommt zusammen in Natura Urbana, im Film, in der Stadt, in der NaturKultur. Menschliche und nicht menschliche AkteurInnen versammeln sich und handeln ein Zusammenleben aus. Das geht nicht ohne Kämpfe, denn der Lebensraum ist durch die Bodenspekulation in Gefahr. Doch „die Pflanzen und Tiere lassen sich nicht so leicht vertreiben“, beschließt der Botaniker Herbert Sukopp den Film. „Es sind vielleicht mal andere als vorher. Aber die Natur, um für einmal dieses Wort zu missbrauchen, kommt zurück.“
Eine der Gemeinsamkeiten von Menschen und Kunst besteht darin, dass sie gerne überbewertet werden. Wenn es um die simple Frage geht, was wir konkret für die Einhaltung der ratifizierten Klimaziele tun, wird es meist peinlich still. Tatsächlich sind gerade wir Kulturschaffenden mit unserer globalisierten Mobilität KomplizInnen eines räuberischen Lifestyles. Die aktuelle medien-, methoden-, disziplinen- und arten-übergreifende Hinwendung zur Sorge um die anderen zeigt bestenfalls, dass wir nicht allein sind, wenn wir uns sorgen.

Climate Games hieß eine Serie orchestrierter Aktionen in verschiedenen europäischen Städten im Sommer 2018 unter dem Slogan „Systemwandel statt Klimawandel“.

 

 

[1] María Puig de la Bellacasa, Making time for soil: Technoscientific futurity and the pace of care, in: Social Studies of Science, Vol. 45, 2015, S. 692–716.
[2] Stengers prägte den Begriff „GMO-Event“ und meinte damit das kollektive Auftauchen von Widerstand gegen die Implementierung von genetisch modifizierten Organismen in Europa anfangs der 2000er-Jahre. Isabelle Stengers, In Catastrophic Times. Resisting the Coming Barbarism. Open Humanities Press/Meson Press 2015.
[3] Gene Ray, Writing the Ecocide-Genocide Knot: Indigenous Knowledge and Critical Theory in the Endgame, in: Quinn Latimer/Adam Szymczyk (Hg.), South as a State of Mind #8 [documenta 14 #3], S. 121.
[4] Claire Brault, Feminist Imaginations in a Heated Climate: Parody, Idiocy, and Climatological Possibilities, in: Catalyst – Feminism, Theory, Technoscience, 3(2), 2017, S. 2; http://www.catalystjournal.org.
[5] Claire Colebrook, We Have Always Been Post-Anthropocene, in: Richard Grusin (Hg.), Anthropocene Feminism. Minneapolis 2017, S. 10.
[6] Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, Koolaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt am Main/New York 2014, S. 405.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Karin Harrasser: Gegen den Tag. Überlegungen zum langen Jetzt, in: springerin 3/2016, S. 20.
[9] Vgl. Tobias Bärtsch et al. (Hg.), Ökologien der Sorge. Wien 2017, S. 25–96; http://transversal.at/books/oekologiendersorge.
[10] Puig de la Bellacasa, Making time for soil, S. 705.
[11] Ebd., S. 709.