Heft 4/2018 - Artscribe


Lynn Hershman Leeson – First Person Plural

19. Mai 2018 bis 15. Juli 2018
Kunstwerke / Berlin

Text: Jörn Ebner


Berlin. In einem traurigen Hotelzimmer in Berlin-Mitte liegen verschiedene Zettel und Notizen herum. Auf Spiegeln in Flur und im Bad sind kryptische Nachrichten mit Lippenstift geschrieben. Ein Laptop stellt ein Video mit Interviews von WissenschaftlerInnen zur Verfügung. The Novalis Hotel lautet der Titel der Installation von Lynn Hershman Leeson im Hotel Novalis, einer Satellitenstation, die nur einzeln betreten werden kann und die einen beklemmenden Eindruck hinterlässt. Die verstreuten Dinge bieten einen diffusen Blick auf ein vermeintliches Privatleben, ohne dass etwas über die eigentliche Person wirklich sichtbar wird. Das Bild einer psychisch verletzten Figur offenbart sich dann in der eigentlichen Ausstellung umso deutlicher.
In einer ehemaligen Industriehalle, die von den Kunstwerken für die Hershman-Ausstellung First Person Plural angemietet wurde, sind Videoarbeiten aus den Jahren zwischen 1970 und 1990 aufgereiht. Sie stellen einerseits die thematischen Verbindungen zwischen Hershmans Arbeiten untereinander her und verknüpfen zum anderen die räumlich voneinander entfernten Präsentationen in Hotel und Industriehalle. Novalis Hotel ist als gespiegelte und zeitliche Verlängerung von Dante Hotel konzipiert, einer ortsspezifischen Installation von 1972–73, in der einer fiktiven Person nachgestellt wurde. Das Dokumentations-U-matic-Video von Dante Hotel flackert hier in digitalisierter Fassung und zeigt eine humanoide Wachspuppe in Bettdecken gemummelt, zugespielte Geräusche, den Raum als künstlich präparierten Ort. Das Video lässt noch an Gräueltaten denken, während die Installation im Hotel Novalis eher das intime Leben einer Besucherin vermittelt, die nur kurzzeitig das Zimmer verlassen hat.
Ob dieses Leben jenes von Lynn Hershman selbst ist oder das von einem fiktiven Avatar wie ihrer 1973 erstmals entwickelten Persona Roberta Breitmore bleibt unklar. Hershman und Breitmore sind seit Dante Hotel miteinander verknüpft. In der Ausstellung ist der digitalisierte 16-mm-Film Lynn turning into Roberta von 1978 zu sehen, in dem Hershman sich in Roberta Breitmore verwandelt. Ein weiteres Video zeigt einen Werbeclip für sich selbst (A Commercial for Myself, 1978), während ein viertes, ursprünglich auf U-matic gefilmtes Band – Commercials for New York Hotel Rooms (Plaza, Chelsea and Y.W.C.A.) von 1974 – verschiedene Damen in Werbeclips für Hotels beziehungsweise für Lynn-Hershman-Ausstellungen in Hotels präsentiert. Die lasziven Sprechakte der Damen besonders in diesem Video lassen an Escort-Dienstleisterinnen denken, die zu einem Stelldichein animieren wollen, das über bloßes Kennenlernen und Kunstschauen hinausgehen könnte.
Damit dockt das Kurzvideo an die sexuellen Untertöne der anderen Arbeiten an und auch an den Vierteiler Electronic Diaries (1985–90) aus zum Teil 30-minütigen Projektionen, dem die Hauptrolle in dieser Ausstellung zufällt.
In vier zeitlich versetzten Interviewsituationen spricht eine Frau – Hershman – zur Kamera über traumatische Ereignisse. Als Kind habe sie physische Misshandlungen und sexuellen Missbrauch erfahren, der dazu geführt habe, so berichtet Part 1: Confessions of a Chameleon, dass sie sich in parallele Welten zurückgezogen hätte. Der zweite Film Part 2: Binge dokumentiert die Selbstzweifel dieser Person am eigenen körperlichen Erscheinungsbild, die durch den Zerfall ihrer Ehe und die traumatischen Kindheitsereignisse hervorgerufen scheinen. Auch der dritte Film Part 3: First Person Plural führt die Selbstreflexionen weiter, bis der vierte (Part 4: Shadows Song) schließlich eine weitere Figur ins Spiel bringt, einen schwarzen Mann, der in sozialer, beruflicher sowie gegenderter Hinsicht eine Spiegelverkehrung von Hershman darstellt. Er tritt zu einer Zeit in ihr Leben, in der beide mit Krebs diagnostiziert werden. Die Frau überlebt – der Krebs verschwindet auf wundersame Weise –, während der Mann stirbt. Es scheint, als habe der Tod dieses schwarzen Arbeiters die vormaligen Leiden der Frau erlöst und die Selbstzweifel und Trauer über Gewalt gegen die eigene Person in sich aufgenommen. Das gespiegelte Selbstbild als ein Erlöser und doch ist dieser Spiegel eher ein soziales Konstrukt.
In den kleinen Installationen und Videoarbeiten, die als Einleitung zu den Electronic Diaries herhalten, ist der Spiegel dagegen sehr konkret auf die BetrachterInnen gerichtet. Venus of the Anthropocene (2017) besteht aus einem Mannequintorso an einem Schminktisch mit darüber hängendem Bildrahmen. In diesem zeigt sich das Videospiegelbild der BesucherIn, als sei er oder sie das Mannequin, das sich mit der eigenen Erscheinung befasst. In der gegenüberliegenden Installation Lorna (1979–82) laden zwei Sessel zum Betrachten einer interaktiven CD-ROM ein: Diese zeigt das Leben der Durchschnittsamerikanerin „Lorna“ und ihrer anscheinend unerfüllten Fantasien von Gewalt und Sexualität. Lapidar beigestellt ist diesen Arbeiten ein Videomonitor mit dem Kurzfilm Seduction of a Cyborg (1994), der eine Beziehung zwischen Gender und Technologie herstellt. Die Spiegelungen von Gesellschaft und Sexualität, so wird suggeriert, gehen zunehmend in technischem Glauben auf.
Hershmans Videoarbeiten veranschaulichen die inhaltlichen Themen in performativen und sprachlichen Akten und stellen dabei eine Beziehung zu den technischen Mitteln und Möglichkeiten ihrer jeweiligen Entstehungszeit her. In den frühen 1970er-Jahren sind dies die TV-Werbespots, in den 1980ern die Confession- oder Selbstoptimierungsvideos à la Jane-Fonda-Work-outs und ab den 1990ern die zunehmenden Möglichkeiten digitaler Bildmanipulation. Selbstreflexion ist bei Hershman gebunden an die technischen Bildmittel der Zeit.
Waren es früher Fernsehen oder Zeitschriften, die sich in die gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit einmischten, sind dies heute digitale Medien und Bilderzeuger. In den Arbeiten von Lynn Hershman Leeson kehren die Akteurinnen ihr Inneres nach außen, um fundamentale Probleme, wie Missbrauch oder persönliches Unglück, zu artikulieren. Sie scheinen in der Gegenwart zeitverrückt: Denn Videoakteurinnen heute – die Influencerinnen auf Videoportalen und bildlastigen „social networks“ – kehren ihr Äußeres nach außen, um die gesellschaftliche Genderkonstruktionen am Leben zu erhalten.