Heft 4/2019 - Digital Unconscious


Die Erfindung des Freud’schen Roboters

Lydia H. Liu


Als der britische Schriftsteller Arthur C. Clarke Mitte der 1950er-Jahre die Bell Labs besuchte, um sich über die spektakulären Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit zu informieren, traf er in Claude Shannons Büro auf einen skurrilen Apparat mit der Bezeichnung „The Ultimate Machine“. Shannons wegweisende Arbeiten zur Kryptografie und zur mathematischen Basis von Kommunikation aus dem Zweiten Weltkrieg wurden damals freigegeben, und er wurde als Begründer der Informationstheorie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Stolz führte Shannon das eigenartige Gerät, das er 1952 konstruiert hatte, seinen BesucherInnen vor. Die kleine Demonstration hatte eine unmittelbare Wirkung auf Clarke, genau genommen auf alle, die die Gelegenheit hatten, sie zu sehen. Clarke beschreibt seinen ersten Eindruck von dem Apparat wie folgt:
„Nichts könnte unscheinbarer sein. Es handelt sich lediglich um ein kleines Holzkästchen in Form und Größe einer Zigarrenkiste mit einem einzigen Schalter auf der Oberseite.
Legt man den Schalter um, ertönt ein ungehaltenes, entschlossenes Surren. Langsam öffnet sich eine Klappe, und eine Hand erscheint. Die Hand fährt aus, stellt den Schalter auf ‚aus‘ und zieht sich in die Kiste zurück. Mit der Endgültigkeit eines sich schließenden Sarges fällt die Klappe wieder zu, das Surren endet, und alles ist wieder ruhig.
Hat man das nicht erwartet, ist die psychologische Wirkung verheerend. Eine Maschine, die nichts tut – absolut nichts –, außer sich selbst auszuschalten, hat etwas unsagbar Gespenstisches an sich.“1
Es heißt, die Idee zur „Ultimate Machine“ gehe ursprünglich auf Shannons Wissenschaftlerkollegen Marvin Minsky zurück, der, wie ich später ausführen werde, zum Begründer der Disziplin namens Künstliche Intelligenz (KI) werden sollte. Shannon war von Minskys Idee sofort angetan und machte sich daran, die Maschine zu entwerfen und einige Modelle zu bauen. Die psychische Wirkung dieses Apparats war so unheimlich, dass laut Clarke „gestandene WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen Tage brauchten, um darüber hinwegzukommen. Einige wandten sich Berufen zu, die noch eine Zukunft hatten, wie etwa Korbflechten, Imkerei, Trüffelsuche oder Wünschelrutengehen. Fortan mussten sie sich unablässig fragen, wem die Stunde der Bell Labs geschlagen hatte.“2 Clarke selbst war deutlich erschüttert angesichts der „unsagbar gespenstischen“ Erscheinung des Apparats, der an sich schon fast eine Verkörperung des Todestriebs darstellt. Er benutzte das Wort „verheerend“, als würde er auf dunkle Absichten reagieren, die von dieser Maschine ausgingen. Wie konnte eine künstliche Hand, die „nichts“ anderes tat als aufzutauchen und wieder zu verschwinden, eine so außergewöhnliche Wirkung auf die menschliche Psyche haben?
Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und Shannons Erfindung kann uns nicht länger überraschen. Heute sind wir umgeben von Menschen, die sich begeistert über Cyborgs, Androiden und den posthumanen Menschen äußern und in Roboter vernarrt sind. Wir lieben oder hassen sie und lassen sie unsere Träume und unser soziales Leben beherrschen. Es ist, als wären wir in einer narzisstischen Schleife aus Mensch-Maschine-Simulacra gefangen. Rodney Brook hat das erkannt und erklärte vor 15 Jahren: „Der Unterschied zwischen uns und den Robotern wird verschwinden.“3 Mir scheint jedoch, dass sich etwas viel Tiefgreifenderes und Unheimlicheres abspielt. Wir sollten uns neue Fragen über die verschwommene Grenze zwischen Mensch und Maschine stellen: Entwickelt sich der Mensch zu einer Art Freud’schem Roboter, während KI-IngenieurInnen ihre Roboter gleichzeitig immer menschenähnlicher gestalten? Kurz gesagt, führt der Weg aus zwei Richtungen in das „unheimliche Tal“?
Um die eigenartigen Mensch-Maschine-Simulacra zu erforschen, könnte man eine soziologische Diagnose der sozialen Medien erstellen oder das Modell der Kulturkritik übernehmen, mit dem diese das Verhalten der jüngeren Generation im Zeitalter der Digitaltechnik analysiert. Zahlreiche JournalistInnen und WissenschaftlerInnen haben genau dies getan. Doch wir benötigen auch ein fundiertes theoretisches Verständnis des Problems, wenn es um den Umgang mit Mensch-Maschine-Simulacra geht. „Welches Problem?“, mag man sich fragen. Ist irgendetwas falsch an unserer Begeisterung für intelligente Maschinen? Warum sollten wir uns wegen dieser Begeisterung Sorgen machen und sie untersuchen?
Sollte meine Annahme zutreffen, dass der Mensch eine immer größere Ähnlichkeit zu den intelligenten Maschinen entwickelt, die er erfindet, während er Roboter konstruiert, die sich immer menschenähnlicher verhalten, dann ist das Ergebnis dieser endlosen Rückkopplungsschleife eine neue Generation von Cyborgs mit einer eigenartigen Mensch-Maschine-Schnittstelle. Ich nenne diese neue Spezies „Freud’sche Roboter“. Ausgehend von dem gleichnamigen Buch, das ich zu dem Thema geschrieben habe, möchte ich festhalten, dass der Freud’sche Roboter das ultimative Unheimliche im kollektiven Unbewussten darstellt. Das möchte ich hier anhand von drei miteinander verbundenen Aspekten ausführen, erstens der Faszination von Sigmund Freud für Automaten, als er 1919 seinen Essay Das Unheimliche verfasste, zweitens der Hypothese vom „unheimlichen Tal“ des japanischen Robotikers Masahiro Mori, und drittens der „Emotion Machine“ des amerikanischen KI-Wissenschaftlers Marvin Minsky.

Zurück zu Freud: Automaten in Das Unheimliche
Wir haben gesehen, dass die mechanische Hand in Shannons „Ultimate Machine“ eine unheimliche Wirkung erzeugt, indem sie die Gesten der menschlichen Hand simuliert. Die Simulation eigenständiger Bewegungen durch abgetrennte Gliedmaßen steht in engem Zusammenhang mit Freuds Faszination für Automaten, als er 1919 seinen Essay Das Unheimliche verfasste. In seiner Analyse von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann legt Freud besonderes Augenmerk auf abgetrennte Gliedmaßen, abgehauene Köpfe, abgehackte Hände oder von allein tanzende Füße.
Erwähnenswert ist, dass Freud sich dabei auf eine frühere Untersuchung des Unheimlichen von Ernst Jentsch (1906) bezog, der das Unheimliche nach seiner Lektüre von Hoffmanns Erzählung Der Sandmann als Erster mit Automaten in Verbindung brachte. In seinem Aufsatz Zur Psychologie des Unheimlichen vermutet Jentsch, dass unter allen psychischen Unsicherheiten, die das Gefühl des Unheimlichen verursachen können, insbesondere eine in der Lage sei, eine regelmäßige, starke und allgemeine Wirkung zu entfalten. Dabei handele es sich um den Zweifel daran, ob ein anscheinend lebendiges Wesen beseelt oder unbeseelt sei und umgekehrt, ob ein lebloser Gegenstand nicht doch belebt sein könnte, wie etwa ein Baumstamm, der sich auf einmal bewegt und als Riesenschlange erweist oder wenn etwa ein Wilder erstmals eine Lokomotive oder ein Dampfschiff erblickt. Zu den anderen unbelebten Objekten, die in die Kategorie des Unheimlichen fallen, zählt Jentsch Figuren in Wachsfigurenkabinetten, Panoptiken und Panoramen, und er lenkt unsere Aufmerksamkeit insbesondere auf automatisches Spielzeug bzw. lebensgroße Automaten, die komplizierte Aufgaben durchführen können, wie Trompete spielen oder tanzen. In dieser Hinsicht würden sich Shannons „Ultimate Machine“ und viele weitere kybernetische Spielzeuge der Gegenwart perfekt in Jentschs Vorstellung vom Unheimlichen einfügen.
Jentsch vermutet darüber hinaus, dass das Unheimliche eine halbbewusste Projektion des Selbst auf ein Objekt sei, auch wenn das Objekt als Bild dieser Selbstprojektion das Selbst im Gegenzug erschrecke. Aus diesem Grund seien Menschen nicht immer in der Lage, die Geister, die ihr eigener Kopf erschaffen hat, zu vertreiben. Diese Ohnmacht erzeuge „das Gefühl, von einem Unbekannten, Unbegreiflichen bedroht zu sein, das dem Individuum ebenso räthselhaft ist, als gewöhnlich seine eigene Psyche auch“4. In Erzählungen, so Jentsch, beruhe einer der verlässlichsten Kunstgriffe, eine unheimliche Wirkung zu erzielen, darauf, die Leserschaft im Ungewissen darüber zu lassen, ob sie es mit einem Menschen oder einem Automaten zu tun habe. „In seinen Phantasiestücken“, ergänzt er, „hat E. T. A. Hoffmann dieses psychologische Manöver wiederholt mit Erfolg zur Geltung gebracht”, nämlich mit der Frage, ob die Puppe Olimpia in Der Sandmann beseelt oder unbeseelt ist.
Interessant ist, dass Freud Jentschs Argument der intellektuellen Ungewissheit ablehnt und anderweitig nach den Ursachen des Unheimlichen forscht. Er konzentriert sich zunächst auf das, was Hoffmanns Ausdrucksweise über Verdrängung verrät: „So verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt [...], denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas aus dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist. Die Beziehung auf die Verdrängung erhellt uns jetzt auch die Schellingsche Definition, das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“5 Auf der Suche nach den Ursachen der Verdrängung entdeckt Freud in der Angst der Figur des Nathanael, seine Augen zu verlieren, eine tiefer sitzende und symptomatische Kastrationsangst: „Diese automatische Puppe kann nichts anderes sein als die Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit.“6 Steht das Unheimliche grundsätzlich mit dem Kastrationskomplex in Verbindung? Freud sah das so, aber andere widersprechen ihm.
So schlägt zum Beispiel Hélène Cixous eine andere Leseart des Unheimlichen vor, indem sie eine enge Verbindung zwischen Hoffmanns fantastischer Erzählung und den Puppentheatern aufzeigt, die zur Zeit der deutschen Romantik die Bühnen bevölkerten: „Vor den Augen des Lesers entsteht unweigerlich die Form eines Marionettenspiels, in dem wirkliche Puppen und Trugbilder von Hampelmännern, wahres und falsches Leben von einem zwar souveränen, aber launenhaften Bühnenmeister in Bewegung gesetzt werden.“7 Daraus lässt sich schließen, dass es sich bei dem Puppenspieler in Der Sandmann um den Schriftsteller E. T. A. Hoffmann handelt, der diese literarischen Marionetten in Bewegung setzt, um bei uns emotionale und intellektuelle Reaktionen auf das vom ihm als unheimlich Bezeichnete auszulösen. Das Medium von Hoffmanns Automaten ist das Marionettentheater, in dem sich der Puppenspieler und sein Publikum bzw. seine Leserschaft auf ein psychologisches Verwirrspiel darüber einlassen, was lebendig und was leblos ist. In diesem Theater dauert es nicht lange, bis die ungelenke, von den Wissenschaftlern/Alchemisten Spalanzani und Coppola erschaffene Puppe Olimpia als solche erkannt und entlarvt wird. Aber was ist mit Nathanael? Offensichtlich fällt es uns schwer, auf Anhieb festzustellen, ob er beseelt oder unbeseelt ist.
Meiner Ansicht nach ist Nathanael der noch viel raffiniertere Automat, den der Schriftsteller E. T. A. Hoffmann als Gegenpart zur geringwertigeren, von Wissenschaftlern entworfenen Puppe Olimpia erschaffen hat. Anders als Jentsch, der die Erzählung wörtlich interpretierte, konzentrierte sich Freud zwar auf die richtige Figur – das heißt Nathanael und nicht Olimpia –, hat aber Nathanael nicht als Automaten erkannt. Das ist ein wenig seltsam, denn wir wissen, dass Freud sich sehr für die Mechanismen des Unbewussten interessierte. So setzte er sich bekanntlich mit der Camera obscura, dem Wunderblock und ihrem Verhältnis zum Unbewussten auseinander. In Die Traumdeutung merkt Freud an, „dass wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zusammengesetztes Mikroskop, einen fotografischen Apparat u. dgl. Die psychische Lokalität entspricht dann einem Orte innerhalb eines Apparats, an dem eine der Vorstufen des Bildes zustande kommt.“8
Werden die Automaten der Gegenwart und komplexe Werke Künstlicher Intelligenz dasselbe Gefühl des Unheimlichen hervorrufen wie Hoffmanns Erzählung bei Freud? Was wissen wir eigentlich über die Psyche intelligenter Maschinen? Diese Fragen führen uns zu den Arbeiten des japanischen Robotikers Masahiro Mori, dessen Hypothese zum „unheimlichen Tal“ in den letzten Jahrzehnten großen Einfluss auf den KI-Sektor gewonnen hat.

Das „unheimliche Tal“
Zu den neuesten Entwicklungen auf diesem Gebiet zählen die Arbeiten von IngenieurInnen, RobotikerInnen und PsychiaterInnen zur sogenannten „Uncanny-Valley-Hypothese“. Sie wurde 1970 von dem japanischen Robotiker Masahiro Mori aufgestellt. Er vermutete, dass unser Gefühl der Empathie und Vertrautheit mit Robotern in dem Maße zunehme, wie Roboter menschenähnlicher würden – bis das „unheimliche Tal“ erreicht sei. An diesem Punkt würden Roboter allmählich negative Gefühle in uns auslösen. Nach einer Untersuchung verschiedener Handprothesen kam Mori zu dem Schluss, dass die prothetische Hand in dem Maße, in dem sie durch die neuen Technologien noch beweglicher wird und sich ihre Finger automatisch bewegen lassen, diese belebte Hand in die Talsohle des „unheimlichen Tals“ stürzen würde. Das folgende Diagramm veranschaulicht Moris in Anlehnung an Freuds ausgearbeitete Hypothese:

Abb.

Mori siedelt den „gesunden“ Menschen auf dem zweiten Gipfel an und die Handprothese fast auf dem Grund des „unheimlichen Tals“, was an die Wirkung von Shannons „Ultimate Machine“ auf den Schriftsteller Arthur Clarke erinnert. Mori stellte fest: „Deshalb kann der Tod als das Hinabstürzen vom oberen rechten Gipfel der hinteren Kurve (bewegt) auf den vorderen unheimlichen Talgrund bezeichnet werden (unbewegt) [...]. Wir fallen glücklicherweise in das unheimliche Tal der unbewegten Entitäten, nicht auf den Grund des unheimlichen Tals der bewegten Entitäten. [...] Sollten wir dorthin fallen, fänden wir schauderhafte Existenzen: die lebenden Toten! Ich glaube, genau dies ist das Geheimnis des unheimlichen Tals. Warum sind wir so geschaffen, dass uns solche Dinge ‚unheimlich‘ vorkommen? Ist diese Reaktion essenziell für den Menschen? Darüber habe ich noch nicht genug nachgedacht. Ich bin mir jedoch sicher, dass das unheimliche Tal für unseren Selbstverteidigungsinstinkt eine wichtige Rolle spielt.“9 Das kommt zwar Freuds Deutung des Unheimlichen und des Todestriebs recht nahe, doch Mori ergänzt schnell seine Absichten: „Wir hoffen, irgendwann Roboter oder Handprothesen entwickeln und herzustellen zu können, die nicht in das unheimliche Tal fallen“10, und das anscheinend aus Respekt vor dem Todestrieb, wie Freud gesagt hätte.
Die provokanten Fragen des japanischen Robotikers haben den Anstoß zu dem gegeben, was gemeinhin als „Forschung zum unheimlichen Tal“ bekannt ist. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat diese Forschung in den verschiedensten Bereichen Fuß gefasst, vom Roboterdesign über Computerspiele bis hin zu Subkulturen. Doch ihr wichtigstes Ziel, die wissenschaftliche Erforschung der emotionalen und kognitiven Wirkung von humanoiden Robotern, Automaten und sozialen Robotern auf Menschen, ist weitgehend gleichgeblieben. Seit einigen Jahren wenden etwa die Kognitionswissenschaftler Frank Hegel, Sören Krach und ihr Team funktionelle Neurobildgebungsverfahren auf die Phänomenologie von Mensch-Roboter-Interaktionen an. Sie konzentrieren sich auf unterschiedliche Grade menschenähnlicher Gestaltung von Robotern, wobei sie davon ausgehen, dass die Mehrheit intersubjektiver, nonverbaler Hinweise vom menschlichen Gesicht kommuniziert werden, weshalb das Design des Roboterkopfs in ihren Studien wesentlich ist. Da die Physiognomie eines Roboters beeinflusst, inwieweit er als menschlich wahrgenommen wird, interagieren menschliche ProbandInnen angeblich vorzugsweise mit „positiven“ Robotern und vermeiden negativ wirkende bzw. sich negativ verhaltende Roboter, was auch immer ihre Negativität in sozialer oder psychischer Hinsicht ausmachen mag. Interessant an der Arbeit dieser Gruppe ist ihre Behauptung, dass sich ihre Hypothese auf Freuds Begriff des Unheimlichen stützt, „das seinen Schrecken nicht aus etwas äußerlich Fremden und Unbekannten bezieht, sondern im Gegenteil, aus etwas seltsam Vertrautem, das unser Bemühen untergräbt, uns davon abzugrenzen“.11 Die ProbandInnen spielen eine Version des Gefangenendilemmas durch, wobei ihre PartnerInnen jeweils ein Computer, ein funktioneller Roboter, ein anthropomorpher Roboter und ein Mensch sind. Je menschlicher der Roboter aussieht und sich verhält, desto höhere Erwartungen stellen seine menschlichen PartnerInnen an seine Fähigkeiten – was oft zu negativen Reaktionen aufseiten der Menschen führt.
Freud wäre an solchen Experimenten äußerst interessiert gewesen. Die Frage ist jedoch, ob das Ergebnis dieser Studien uns wirklich etwas Neues über das Unheimliche zutage fördert. Oder spiegelt es lediglich die Ansichten von WissenschaftlerInnen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in Hinblick auf die Absichten und Wünsche anderer in einer bereits vorgegebenen Versuchsumgebung wider? Falls ja, wo sind dann neue Erkenntnisse in der Erforschung des Unheimlichen zu finden?

Marvin Minskys „Emotion Machine“
Die Inspiration zu dem bekannten Roboter HAL in Kubricks Film 2001: A Space Odyssey aus dem Jahr 1968 lieferten dem Drehbuchautor Arthur C. Clarke KI-Entwicklungen in den USA und einige reale Roboter, die er im Artificial Intelligence Laboratory des MIT gesehen hatte. Gründer und Leiter dieses Labors war der 2016 verstorbene Marvin Minsky, der gemeinhin auch als Begründer der KI und Roboterwissenschaften gilt. Eine Frage, die sich KI-ForscherInnen nur selten stellen, ist folgende: Welche Rolle spielt Freud in Minskys Arbeiten zur Robotik und in den von ihm initiierten KI-Forschungsprogrammen? Zuvor hatte ich schon eine mögliche psychoanalytische Lesart der „Ultimate Machine“ als Gestaltwerdung des Todestriebs erwähnt. Tatsächlich hat sich Minsky lange auf ganz eigene und faszinierende Weise mit Freud und der Psychoanalyse beschäftigt, und sein großes Interesse für Freud geht aus Büchern wie Mentopolis aus dem Jahr 1986 oder The Emotion Machine von 2006 deutlich hervor. Jedenfalls legen seine Arbeiten nahe, dass die Freud’sche Psychoanalyse die kybernetischen Experimente von KI-IngenieurInnen und -TheoretikerInnen seit Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart begleitet hat.
Minskys bahnbrechende Arbeit zu künstlichen neuronalen Netzen mit zufälliger Verschaltung waren inspiriert von Warren McCullochs und Walter Pitts Arbeiten zu neuronalen Netzen. Später bekundete er seine zwiespältige Verbundenheit mit McCulloch und Freud und beschrieb sein eigenes Werk als weitgehend „neofreudianisch“. Mit Blick auf sein KI-Robotik-Programm griff Minsky auf Freuds Vorstellungen vom Unbewussten zurück und versuchte, diese mithilfe von Jean Piagets Arbeiten zu Kognition und Lernprozessen neu zu formulieren. Das war ein anspruchsvolles Vorhaben, denn ein humanoider Roboter ist ein wesentlich ehrgeizigeres und komplexeres Simulationsprojekt, als Kenneth Colby und sein Team es sich mit ihren neurotischen Maschinen und dem Computerprogramm PARRY vermutlich hätten vorstellen können. Die Konstruktion solcher Roboter geht mit enormen technischen Herausforderungen einher und, noch wichtiger, sie wirft grundlegende philosophische Fragen in Bereichen wie Kognition, Erinnerung, Reflexionsfähigkeit, Bewusstsein etc. auf. Was macht zum Beispiel Menschen so einzigartig oder auch nicht? Und was macht Roboter aus menschlicher Sicht liebenswert oder unheimlich? Bei der Entwicklung seines Robotermodells des menschlichen Denkens umreißt Minsky diese Probleme mit eindeutig Freud’schen Termini, wie das folgende Diagramm aus seinem Buch The Emotion Machine zeigt:

Abb.
Marvin Minskys Simulationsmodell mit dem Spitznamen „Freud’sches Sandwich“. Aus: Marvin Minsky, The Emotion Machine, S. 88.

Minsky bezeichnete das Diagramm als „Freud’sches Sandwich“, in dem Es, Ich und Über-Ich in der ursprünglichen Reihenfolge übernommen werden. Der Hauptunterschied besteht darin, dass genau dieses Modell – und kein anderes– auch als Modell für humanoide Roboter dient. Der zukünftige Roboter muss umfassend mit „mentalen“ Korrektur-, Unterdrückungs- und Zensurmechanismen und Ähnlichem ausgestattet sein, um möglichst intelligent zu funktionieren. Seinem neofreudianischen Ansatz entsprechend lehnt er Rationalität als „eine Form von Fantasie“ ab. Minsky argumentierte, dass „unsere Denkweise nie ausschließlich auf rein logischem Denken basiert“, und sagte voraus, dass „die meisten Versuche, große, sich weiterentwickelnde Künstliche Intelligenzen zu schaffen, verschiedensten psychischen Störungen ausgesetzt sein werden“12. Weitaus interessanter ist aber, dass mitten in seiner Argumentation der fiktive Roboter HAL-2023 auftaucht und bestätigt: „Meine Schöpfer haben mich mit speziellen Backup-Speichern ausgerüstet, in denen ich Abbilder meines Gesamtzustands speichern kann. Wann immer etwas schiefgeht, kann ich genau erkennen, was meine Programme getan haben – so kann ich mich selbst debuggen.“13 Das klingt zwar sehr nach Science-Fiction, aber Minsky meint: „Wir müssen versuchen, Maschinen zu entwerfen – und nicht zu definieren –, die das tun können, wozu der menschliche Verstand fähig ist.“14 Erst wenn es uns gelingt, die kognitiven Mechanismen des Verstands in jeder Hinsicht zu simulieren, können wir völlig verstehen, wie der menschliche Geist funktioniert.
Minskys Verständnis des kognitiven Unbewussten beinhaltet Frames, Terminals, Netzwerksysteme, aber auch Bugs, Unterdrückungsmechanismen und weitere Mechanismen eines Netzwerks aus interagierenden Subsystemen. Ihre Funktionsweisen scheinen sich nicht allzu sehr von der allgemeinen Funktionsweise des Unbewussten zu unterscheiden, wie Freud sie formuliert hat, nur dass Minsky jegliche Verbindung von Unsinn mit einer grundlegenden „Grammatik des Humors“ oder „tiefliegenden komischen Strukturen“ ausschließt. Der Mangel an Geschlossenheit im Unbewussten basiere auf dem Wechselspiel zwischen Sinn und Unsinn in einem komplizierten Beziehungsgeflecht aus Lachen, fehlerhafter Logik, Tabus, Verboten und unbewussten Unterdrückungsmechanismen im Unbewussten. Aus diesem Grund bringe uns die Beschäftigung mit der Semantik in Bezug auf das kognitive Unbewusste nicht viel weiter, da „die Klarheit der Worte selbst eine damit verbundene Illusion ist“15.
Minsky scheute weder die Komplexität, noch näherte er sich dem kognitiven Unbewussten über die Semantik oder verwandte Konzepte. Letztere – verbaler Sinn und Unsinn – erklären sich vielleicht durch die komplexen Pfade der miteinander verbundenen Netzwerksysteme im Unbewussten. Wie groß und wie komplex sind die miteinander verbundenen Netzwerke im kognitiven Unbewussten des Menschen? Das hat bisher niemand beantworten können. Minsky vermutet, „es würde mehr als eine Million miteinander verbundener Wissens-Bits erfordern, aber weniger als eine Milliarde, um dem Verstand eines Weisen zu entsprechen.“16 Macht das die Computersimulation des menschlichen Geistes unmöglich? Minksy hielt ein solches Vorhaben tatsächlich für schwierig, aber nicht für unmöglich.
Maschinen zu entwickeln, die tun können, was der menschliche Verstand tut, bedeutet, den Freud’schen Roboter der Zukunft zu erschaffen. Warum aber humanoide Roboter? Minsky würde antworten, dass dies mit unserem Traum von der Unsterblichkeit zusammenhängt. Die Frage „Ist es mithilfe der Künstlichen Intelligenz möglich, den Tod zu besiegen?“ beantwortete er ganz klar mit „Ja“. Außerdem sagte er voraus, der Mensch werde mithilfe von Robotik und Prothesen nahezu unsterblich werden. Seiner Ansicht nach werden wir in der Lage sein, alle beschädigten Körperteile auszutauschen, einschließlich unserer Gehirnzellen, und fast 10.000 Jahre lang gesund und komfortabel leben. Darüber hinaus werden wir vielleicht sogar unsere Persönlichkeit in einen Computer hochladen können bzw. selbst zu Computer werden – das heißt Freud’sche Roboter – und „Intelligenz eine Form verleihen, die der menschlichen auf unheimliche Weise ähnelt“17. Das Wort „unheimlich“ ist ihm dabei wohl unbewusst entschlüpft, verweist aber in gewisser Weise auf das wahre Ziel der KI-Forschung. Der selbsternannter Neofreudianer Minsky dürfte es irgendwie verabsäumt haben, den Verdrängungsmechanismen in Bezug auf den Tod Rechnung zu tragen.
Wird der Tod tatsächlich jemals überwunden werden? Ist der Wunsch, das Unbewusste zu beherrschen, eine Manifestation des Todestriebs, den Freud in der menschlichen Zivilisation entdeckt hat? Die vertrauten psychischen Abwehrmechanismen, die Freud vor langer Zeit entdeckt hat, lassen uns heute eine Rückkehr des Verdrängten in den Arbeiten von Minsky und anderen KI-ForscherInnen erkennen. Ihre Roboter sind insofern Freud’sche Roboter, als sie das ultimative Unheimliche in unserem kollektiven Unbewussten verkörpern.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Arthur C. Clarke, Voice Across the Sea. New York 1959. S. 159.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Rodney A. Brooks, Menschmaschinen: Wie uns die Zukunftstechnologien neu erschaffen. Aus dem Engl. von Andreas Simon. Frankfurt am Main 2005.
[4] Ernst Jentsch, Zur Psychologie des Unheimlichen, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 8.22 (25. August 1906), S. 195ff. und 8.23 (1. September 1906), S. 204.
[5] Vgl. Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: Gesammelte Werke, Bd. XII. London 1947, S. 227–268.
[6] Ebd.
[7] Hélène Cixous, Die Fiktion und ihre Geister. Eine Lektüre von Freuds „Das Unheimliche“, in: Klaus Herding/Gerlinde Gehrig (Hg.), Orte des Unheimlichen. Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst. Schriften des Sigmund-Freud-Instituts, Reihe 2, Bd. 2. Göttingen 2006, S. 37.
[8] Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 1972 (Erstausgabe 1900).
[9] Masahiro Mori, Das unheimliche Tal. Übersetzung aus dem Japanischen: Karl F. MacDorman/Valentin Schwind, in: Konstantin Daniel Haensch/Lara Nelke/Matthias Planitzer (Hg.), Uncanny Interfaces. Hamburg 2019, S. 218.
[10] Ebd, S. 216.
[11] Frank Hegel/Sören Krach/Tilo Kircher/Britta Wrede/Gerhard Sagerer, Theory of Mind (ToM) on Robots: A Functional Neuroimaging Study, in: Proceedings of the 3rd ACM/IEEE International Conference on Human Robot Interaction, Amsterdam, Niederlande 12. bis 15. März 2008, S. 336.
[12] Marvin Minsky, The Emotion Machine: Commonsense Thinking, Artificial Intelligence, and the Future of the Human Mind. New York 2006, S. 341.
[13] Ebd., S. 128.
[14] Ebd., S. 107.
[15] Marvin Minsky, Robotics: The First Authoritative Report from the Ultimate High-Tech Frontier. New York 1985, S. 189.
[16] Ebd.
[17] Ebd., S. 302.