Heft 2/2020 - Come Together!
To live in the Borderlands means you …
Gloria Anzaldúa, Borderlands
Die derzeitige Klimakrise und die unheilvollen Vorhersagen für die kommenden Jahrzehnte verlangen nach einer sofortigen Antwort. Wie in den meisten Krisensituationen sind auch jetzt entweder die Forderungen nach unmittelbarem Handeln am lautesten, üblicherweise in Form der mutig-heroischen Sprache der SiegerInnen, oder ihr genaues Gegenteil, die Stimmen des Nihilismus und der Verzweiflung, die von Rückzug, Tristesse oder Resignation künden. Das erinnert an Susan Sontags und Jean Baudrillards Disput über die Aufführung von Warten auf Godot im belagerten Sarajevo im Jahr 1993. Während Baudrillard in Paris Wein trinkend einen weiteren Krieg verfolgte, der nur auf dem Bildschirm seines TV-Geräts stattfand, und sich fragte: „Warum lassen wir sie nicht in Ruhe?“, hielt es Sontag in New York nicht mehr aus. Sie flog nach Sarajevo, wo sie SchauspielerInnen und ProduzentInnen vor Ort anbot, Becketts Stück am Jugendtheater (Pozorište mladih) zu inszenieren. Die Unmittelbarkeit von Sontags Handeln im Gegensatz zum vollständigen Rückzug Baudrillards stellen sich noch immer als die primären Handlungsmöglichkeiten dar, obwohl es weitaus mehr gibt. Denn die Zukunft ist jetzt.
Konzept und Praxis des schwachen Widerstands loten keine der beiden Optionen aus, auch wenn sie womöglich mit beiden zugleich sympathisieren. Der schwache Widerstand nutzt die transversale Methode des Überbrückens solcher Klüfte, denn er bekennt sich zu seiner Verstrickung in jene Umstände, die uns alle zu widersprüchlichen Wesen machen, einschließlich unserer beruflichen und politischen Eingebundenheit, Situiertheit und Bündnisse. Wie Donna Haraways Cyborg hat auch der schwache Widerstand weder einen eindeutigen Ursprung, noch hofft er auf eine perfekte Zukunft. Unschuld ist Ideologie. Schwäche, historisch der Frau und Europas „Anderen“ zugeschrieben, lässt sich als Ausgangspunkt der Umgestaltung betrachten, als Wendepunkt, als ein Moment der Mobilisierung. Möglicherweise brauchen wir keine weiteren HeldInnen. Wir können gemeinsam handeln, denn die Zukunft ist jetzt.
In seiner Neuinterpretation der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts argumentiert Boris Groys, dass sie alle die Schaffung einer Form von Universalität anstrebten, die die Klassengegensätze überwinden würde. Ihr Bemühen um Abstraktion, ihr Vorhaben, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden, sowie der eher zeitgenössische Anspruch, jeder sei KünstlerIn, seien als (künstlerische) Formen eines schwachen Messianismus zu verstehen. Walter Benjamins schwacher Messianismus war bekanntlich ein Pakt zwischen den Generationen, ein Pakt der Unterprivilegierten und der Schwachen in ihrem Streben nach Emanzipation. Bei der generationenübergreifenden Solidarität unter den Unterdrückten handelt es sich keineswegs um eine von den SiegerInnen geschriebene Geschichte. Dennoch ist sie vom Scheitern geprägt. Rosa Luxemburg erklärte, wir müssten lernen zu scheitern und dass nur jene verzweifeln könnten, die nicht Tag für Tag gezwungen seien, Widerstand zu üben und Widerstandskraft zu beweisen. In ihren Gefängnisschriften betont sie die Notwendigkeit, Hindernisse zu überwinden, manchmal durch das Lernen aus Fehlern – und manchmal indem wir die Selbsterhaltung der Natur beobachten. Woraus sich ableiten lässt, dass Luxemburg ein Lernen auf der Basis von Scheitern, oder eines „besseren Scheiterns“, hochhielt. Daran sei erinnert, denn die Zukunft ist jetzt.
In einer neoliberalen Zeit beschleunigter Produktivität, in der jeder Aspekt unserer Handlungsmacht zugleich verstärkt und kapitalisiert wird, wenn auch nicht unbedingt durch uns selbst, sollten wir uns dieses alte, revolutionäre Motto in unserer Praxis des Widerstands ins Gedächtnis rufen. Wie schon Guy Debord mahnte, werden wir von Bildern überwältigt, die ein erstarrter Ersatz für soziale Beziehungen sind. So können wir uns die Zukunft lediglich als vervielfachte Erfahrung der Verdinglichung vorstellen, vermittelt durch soziale Medien, Arbeitsaufträge, Deadlines und konsumgeprägte Träume. Wie in PJ Harveys Song „We Float“ treiben wir dahin, können uns aber nicht bewegen. Unsere Fähigkeit, etwas zu tun oder uns zu bewegen, ist stets schon Teil des erstarrten, zur Ware gewordenen kapitalistischen Jetzt. Während die VerfechterInnen revolutionärer Ereignisse größtenteils das Jetzt preisen, möchte ich es aufheben, da es uns nie wirklich gelungen ist, über dieses Moment hinaus zu gelangen. Wir sind auf die Vorstellung fixiert, dass ein solcher Schritt zwangsläufig ein Aufgeben des Jetzt bedeutet. Wie wäre es damit, beides zu versuchen? Die neoliberale Logik hat jeden Aspekt unseres Daseins in ein Spektakel verwandelt. Wir sind so sehr mit dem entfremdeten Jetzt beschäftigt, dass wir von der Flut überrascht werden. Daher sollten wir endlich einsehen: Die Zukunft ist jetzt.
Feministische TheoretikerInnen und KünstlerInnen konzentrieren sich überwiegend auf das Prozesshafte. Das ist wichtig, denn es muss sich etwas verändern. Und um Veränderungen zu bewirken, müssen wir das Jetzt endlich verlassen, vielleicht als Teile einer Bewegung. Aufzubrechen und eine Bewegung zu organisieren bedingt einen langwierigen Prozess, verbunden mit häufigem Scheitern und viel Üben, um schließlich ans Ziel zu gelangen. Ja – üben. Laut Sybille Peters sind wir nie viele gewesen und müssen uns daher im Miteinander üben. Erinnert sei hier auch an Jack Halberstams Queer Art of Failure und sein Konzept der „Low Theory“ sowie seine scharfsinnigen Beobachtungen zum Scheitern als Widerstand gegen den neoliberalen Kapitalismus. Denn die Zukunft ist jetzt.
Die Notwendigkeit, es immer wieder zu versuchen, dabei zu scheitern und wieder aufzustehen, verlangt eine wesentlich weiter gefasste Vorstellung von Geschichte, Werden und Widerstand. Nach Hegels Dialektik sind diejenigen, die Geschichte schreiben, ziemliche Außenseiter: ein Sklave, ein kleiner Mann auf einem Pferd und ein Kulturschaffender, infolge ihrer prekären Lebensumstände allesamt erschöpft und pervertiert. Hinzufügen sollten wir hier die verzweifelte und schwer enttäuschte Hausfrau, eine Figur, die ich eindeutig im Kapitel über das „unglückliche Bewusstsein“ ansiedle. Dieses Kapitel betrachte ich wahrlich nicht als eines über romantische, von Schwermut geplagte Jünglinge. Ich sehe haufenweise schmutziges Geschirr, schmutzige Wäsche, Erschöpfung, endlose Monotonie und eine gewisse Absurdität in alledem, nur aufgehoben durch das Gefühl, zum Überleben der Spezies beizutragen. Das ist nicht die Geschichte des jungen Werthers, sondern die der Hausfrauen. Alles in allem wird Geschichte von einer Reihe unvollkommener, müder AntiheldInnen gemacht. Denn die Zukunft ist jetzt.
Aber ist das wirklich so? Schreiben diese unvollkommenen, erschöpften und geplagten Figuren wirklich Geschichte? Ja und nein. Ja, denn bekanntlich tragen sie alle das Ihre dazu bei, und im Grunde tun wir das alle. Nein, denn die Geschichte löscht sie aus, da sie seit jeher von den SiegerInnen geschrieben wird, wie Walter Benjamin bemerkte. Auf den ersten Seiten ihres Buchs Unruhig bleiben warnt uns Donna Haraway vor zwei Gefahren: Verzweiflung und vor „leichten Techno-Fixes“. Bisher hierher lässt sich mein Text wohl als Variation dieser Warnung lesen: Weder leichte, effiziente technische Lösungen bzw. „Fixes“ noch militante linke Nostalgie werden uns retten. Und auch kein Messias. Die Umweltaktivistin Greta Thunberg empört sich: „Wie könnt ihr es wagen?“ Ich nehme ihre Anklage ernst, jedes Mal, wenn ich daran scheitere, mir die Folgen meines Handelns einzugestehen. Denn die Zukunft ist jetzt.
Die junge Frau agiert als Sprecherin all jener, die sich nicht nur um die Zukunft des Planeten sorgen, sondern bereit sind, sich für diese einzusetzen. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für die „Macht der Machtlosen“, wie sie Václav Havel so brillant beschrieben hat. Millionen weitere „Machtlose“, wie SchülerInnen, Mädchen, StudentInnen, ihre Mütter und Großmütter und alle anderen, leisten täglich Widerstand. Ein anschauliches Beispiel: Der Fleischkonsum in der EU ist in den letzten drei Monaten um 20 Prozent gesunken. Das ist enorm und geschah auf eine Weise, wie Havel sie vertrat: durch den alltäglichen Widerstand gewöhnlicher Menschen, die sich selbst als „machtlos“ bezeichnen würden, fragte man sie nach ihrem Einflussvermögen. Während der alltägliche Widerstand 1978 darin bestand, an staatlichen Feiertagen die Nationalflagge vor dem Haus nicht zu hissen, besteht er 2020 in Konsumentscheidungen, Hashtags und „human microphones“. Doch das kann nicht alles sein. Patricia Reed und andere XenofeministInnen mahnen an, dass globale Katastrophen nach globalen Lösungen verlangen, heute womöglich mehr denn je. Das Gespenst des Aussterbens geht um, und zwar in der ganzen Welt, nicht nur in Europa. Die dringende Frage ist daher: Wie werden wir viele? Wie bilden wir eine Vielheit?
Martin Luther King, ein weiterer Anwalt der Schwachen und Vorkämpfer des Übens, Ausprobierens und Scheiterns, hielt anlässlich des Marschs auf Washington im August 1963 fest: „Unter den fast 250.000 Menschen, die an diesem Tag in die Hauptstadt reisten, waren zahlreiche Würdenträger und Prominente, doch das bewegende Gefühl der Ergriffenheit kam von den Massen an einfachen Menschen, die in erhabener Würde als Zeugen für ihre unbeirrbare Entschlossenheit dastanden, in ihrer Zeit die Demokratie zu verwirklichen.“ Er stellte sich vor, dass wir alle in Würde und Unversehrtheit leben sollten, als Gleiche. Muss Gleichberechtigung geübt werden? Ich denke, in einer Zeit, in der Frauen in den meisten europäischen Ländern noch immer fast 20 Prozent weniger verdienen als die meisten Männer (Das EU-Land mit dem geringsten Lohngefälle zwischen den Geschlechtern ist Rumänien!), müssen wir uns in Gleichberechtigung üben. Gesetzliche Gleichstellung allein, gleiche Rechte am Arbeitsplatz und weitere gesetzliche, soziale oder politische Maßnahmen zur Gleichstellung reichen nicht aus. Wir müssen uns in Gleichberechtigung üben, daran scheitern und besser werden. Denn die Zukunft ist jetzt.
Unsere Schwäche zeigt sich auch, wenn wir daran scheitern, so egalitär, progressiv, ökologisch und revolutionär zu sein, wie es unserer Vorstellung entsprechen würde. Wir alle scheitern spektakulär an all diesen Dingen, mal häufiger, mal seltener. Wir scheitern, und wir werden weiterhin scheitern, aber vielleicht ein wenig besser. Denn egalitär zu sein, geht über das erstarrte, konsumorientierte, ausbeuterische und patriarchale Jetzt hinaus, in dem wir alle leben. Es wirft uns in die tiefen Gewässer unbekannter Ansichten, ungelernter Verhaltensweisen und konfrontiert unsere Gewohnheiten mit einer neuen, emanzipierten Welt, in der wir nie richtig gelebt haben. Heißt das, wir sollten lieber bleiben, wo wir sind, im spektakulären Jetzt, und zu einer weiteren Generation autoritärer, rassistischer, klassistischer, misogyner Homophober werden? Oder sollten wir uns gegen Schwäche und Scheitern immun machen, um in einer Art „splendid isolation“ zu leben, wie es einige Intellektuelle in der Vergangenheit taten? Keineswegs! Wie könnt ihr es nur wagen!? – sollten wir Greta Thunberg beipflichten. Wie könnt ihr es wagen zu glauben, ein marxistischer Essay über die Beteiligung an Demonstrationen könne als Entschuldigung dafür herhalten, dass ihr an dem akkumulierten Privileg festhaltet, das euer Jetzt definiert?
Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän ermöglicht Grenzüberschreitungen. Dabei geht es nicht allein um die Arten, obwohl atypische Bündnisse genauso wie die Politik der Cyborgs Donna Haraways Fachgebiet sind. Gloria Anzaldúa, Chicana und Feministin, schrieb: „Ich überschritt die Grenze? Nein, die Grenze überschritt mich!“ Die diffuse Dialektik des Lebens im Grenzgebiet, das Durcheinander der Arten, Länder, Sprachen, Kulturen, Geschlechter und Werte – „Chili im Borschtsch, Vollkorntortillas essen, Tex-Mex mit Brooklyner Akzent sprechen“ (Anzaldúa) – ist gelebte Erfahrung und beispielhaft dafür, die Zukunft nicht als linear ausgerichtet zu erleben, sondern als widersprüchliche, verworrene, verstreute, hin- und hergerissene Vielheit, die Kraft aus ihrer eigenen Schwäche schöpft.
Ich möchte noch kurz ein weiteres Bild anführen, nicht im Sinne einer detaillierten Analyse, sondern als Denkanstoß. Dabei handelt es sich um eine Metapher in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus am Anfang des Kapitels „Zum Ritornell“. Sie bietet eine Alternative zum heroischen Bild des tapferen Soldaten, das wir seit vielen Jahrzehnten in unserer Analyse politischen Handelns evozieren. Der ängstliche Junge in Deleuzes und Guattaris Buch überwindet die Angst, indem er sich ein Lied vorsingt, vielleicht ein Wiegenlied. Etwas, das RadfahrerInnen im Stadtverkehr tun. Ein Lied, um sich zu trösten, sich über die Angst hinwegzusetzen, nicht unbedingt um gegen sie vorzugehen. Jeder kann ein Lied erfinden, das dann von vielen gesungen wird. Es hilft uns oft dabei, Streiklinien zu halten und uns mit anderen zu verbünden. Ein solches Lied richtet uns nach dem Scheitern wieder auf. Wir brauchen dieses Lied immer noch, denn die Zukunft ist jetzt.
Übersetzung aus dem Englischen: Gülçin Erentok
Ewa Majewska ist feministische Philosophin und Aktivistin und Affiliated Fellow am ICI Berlin.
Gloria Anzaldúa, Borderlands/La Frontera: The New Mestiza. San Francisco: Aunt Lute Books 1987.
Jean Baudrillard, Kein Mitleid für Sarajevo, in: Lettre international, 31 (1995), S. 91ff.
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Werke und Nachlass – Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19. Hg. von Gérard Raulet, Berlin: Suhrkamp 2010.
Laboria Cubonix, The Xenofeminist Manifesto. London: Verso 2018.
Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve 1992.
Boris Groys, The Weak Universalism, in: e-flux Journal, #15 (April 2010); https://www.e-flux.com/journal/15/61294/the-weak-universalism/.
Judith Halberstam, The Queer Art of Failure. Durham: Duke University Press 2010.
Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Übersetzt von Karin Harrasser. Frankfurt am Main: Campus 2018.
Jiří Gruša/Václav Havel, Die Macht der Mächtigen oder Die Macht der Machtlosen?/Moc mocných aneb Moc bezmocných? Übersetzt von Christa Rothmeier. Klagenfurt: Wieser 2006.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a. 1807.
Martin Luther King, Jr., Why We Can’t Wait. Boston: Beacon Press 2010.
Lorea Michaelis, Rosa Luxemburg on disappointment and the politics of commitment, in: European Journal of Political Theory, 2/10 (2011), S. 202–224.
Sybille Peters, On Being Many, in: Florian Malzacher/steirischer herbst (Hg.), Truth Is Concrete. Berlin: Sternberg Press 2015.
Susan Sontag, Waiting for Godot in Sarajevo, in: Performing Arts Journal, 16/2 (Mai 1994).