Heft 2/2020 - Netzteil


Im Rücken die Ruinen der Zukunft

Das Wiener Burgtheater suchte in einem neu entworfenen Diskursformat nach künftigen Stellgrößen der „Maschine“ Europa

Christian Höller


„Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“ Die Eröffnungssätze von Heiner Müllers Hamletmaschine, 1977 verfasst, lassen sich auch heute noch emblemhaft für den Zustand des Kontinents lesen. Küste und Brandung (siehe Mittelmeer oder türkisch-griechische Grenze) mögen inzwischen neue Bedeutungen erlangt haben. Das Ruinöse, Abgewrackte und Desaströse, auch wenn es nicht auf Anhieb ins Auge sticht, wird deshalb um nichts weniger einen massiven zukünftigen Ballast darstellen. Selbst wenn man ihm den Rücken zukehrt (oder zugekehrt haben wird), wird es weiter diese historische Last geben – nicht allein aufgrund der Kolonialgeschichte oder der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, sondern auch aufgrund der neuen, nicht weniger rassistischen Ausschließungsregime der Gegenwart.
Ruinen, unsichere Gegenwart und mögliche Zukunft bildeten folglich auch die Klammer der zweimonatigen Diskurs- und Veranstaltungsreihe Europamaschine des Wiener Burgtheaters, mit der das weite Feld dieser Ausschließungs- und Diskriminierungsmechanismen vermessen werden sollte. Die Reihe, konzipiert von dem Philosophen Srečko Horvat und dem Regisseur Oliver Frljić, eröffnete folgerichtig mit einer Neuinszenierung von Heiner Müllers grausamer Europaallegorie. In Frljićs Regie werden die Katastrophenszenarien der Vergangenheit – Müller bezog seinen Text auf kommunistische Säuberungen, niedergeschlagene Befreiungsbewegungen, aber auch den westdeutschen Linksterrorismus – in ein von vielerlei Fronten durchzogenes Heute gestülpt. In Form provokanter Zuspitzungen (Nacktheit, Blut, ein totes Schwein als Sexobjekt) erwachen die Wunschmaschinen der 1970er-Jahre zu neuem Leben, das sich – im dreimaligen Durchlauf des Stücks – keiner Schließung fügen will, sondern immer neue, verquere Begehrensströme ausschickt. Dass die gegenwärtig aufflammenden Autoritarismen von der betonten Multinationalität des Ensembles und dessen individuellen Herkunftsgeschichten konterkariert ist, schafft den Eindruck einer womöglich selbsttätigen, von unten kommenden Gegenmechanik. Wobei die Maschine als Ganzes, egal, wie molekular oder aufgesprengt sie erscheinen mag, niemals stillsteht und alles ihr Entweichende behende reterritorialisiert.
Dass es nicht genug ist, seinen Körper widerständig „in die Maschine zu werfen“, wie dies der US-amerikanische Studentenführer Mario Savio am Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren gefordert hatte – diese Warnung brachte Srečko Horvat in seiner abendfüllenden Lecture Throw Your Bodies Into The Machine wortreich zur Darstellung. Zwar seien Europa- bzw. weltweit die Protestbewegungen am Anwachsen, doch reiche es etwa in Bezug auf den Klimaaktivismus bei Weitem nicht aus, in einem bloßen „green deal“ oder „green capitalism“ die Lösung zu sehen. Zu verflochten seien inzwischen die Komplexitätsebenen des Kapitalozäns. Horvat erinnerte in seinem patchworkhaften Panorama an die aufgrund amerikanischer Atombombenversuche bis in alle Ewigkeiten verstrahlten Marshall Islands, die aufgrund steigender Meeresspiegel mitsamt ihrem Müll langsam im Wasser versinken, an die Skrupel des Hiroshima-Piloten Claude Eatherly sowie den Briefwechsel, den der Philosoph Günther Anders mit ihm darüber führte (Off Limits für das Gewissen, 1961) – allesamt Fingerzeige, dass die Sorge Einzelner gegenüber einem sich zunehmend verselbstständigenden Apparat marginal wirken mag, aber nur sie Ausgangspunkt einer Umgestaltung sein kann. Gefragt seien spekulative, imaginative Wagnisse, am besten kollektiver Natur, worin die wilden politischen Umtriebe von Jean-François Lyotards „libidinöser Ökonomie“ – das gleichnamige Buch erschien erstmals 1974 – auf die Gegenwart umgelegt werden.
Zurück also wieder in die 1970er-Jahre, in denen auch Želimir Žilniks Film Paradies entstand. Žilnik, dessen akklamierte Kenedi-Trilogie (2003–07) ebenfalls im Rahmen von Europamaschine zu sehen war, spitzte in der „imperialistischen Tragikomödie“ Paradies, 1976 in München gedreht, das damalige ideologische Chaos im Herzen Europas experimentell zu. Der Wettkampf zweier Systeme (kapitalistischer Westen vs. kommunistischer Osten) wird darin als Farce inszeniert, wenn eine Unternehmerin, um ihr Geschäft zu retten, sich von Linksterrorismus entführen lässt, um nach ihrer Befreiung schließlich als strahlende Siegerin hervorzugehen. (Der Plot ist angelehnt an die 1975 erfolgte Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz durch die Bewegung 2. Juni.) Žilnik erinnerte im Gespräch daran, dass die Behörden ihm damals nahelegten, Deutschland am besten wieder zu verlassen – das Ganze trug sich ein Jahr vor dem „deutschen Herbst“ zu –, und dass auch in der Filmszene eine Art Zensur durch Totschweigen einsetzte. Ganz im Unterschied zu Jugoslawien, wo seine Filme zwar ebenso verboten wurden, davor aber lange öffentliche bzw. bürokratische Auseinandersetzungen über sie geführt wurden.
Die Paradoxa der liberalen Demokratie, die in Teilen Europas bzw. der Welt längst keine liberale mehr ist, kamen im multidisziplinären Spektrum von Europamaschine unterschiedlichst zur Darstellung. Ein zweitägiges Symposion, the white west III – automating apartheid, lotete die gerade vielerorts wirksam werden Ausschließungsdispositive aufgrund rassifizierender („weißer“) Kategorien, Stichwort Alt-Right, aus.1 Ein höchst treffendes Schlaglicht – geschlagene fünf Stunden lang – warf die Dauerperformance Naked Polish Politics: Zwei wortgewandte AkteurInnen, Jaśmina Polak und Jan Sobolewski, ergingen sich nackt und unter beständiger Tequilazufuhr in Erzählungen und Beobachtungen zur aktuellen Lage in Polen: etwa dass rosenkranbetende Menschenketten 2015 Asylsuchende an der Grenze von der Einreise abhalten wollten; oder dass es inzwischen unter Strafe steht, von „polnischen“ Konzentrationslagern im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Was die Performance der beiden auf den Punkt brachte, war, dass derlei Vorgänge etwas zutiefst Bloßstellendes haben bzw. nur betäubt zu ertragen sind.
Der Theatermacher Thomas Bellinck schließlich rekapitulierte, wie die „Maschine“ Europa heute konkret vor allen an ihren Außengrenzen gesteuert wird. In der von ihm 2015 begonnenen Reihe Simple as ABC wird in Form von bühnenhaften Multimediasettings, Aufführungen und installativen Inszenierungen das europäische Mobilitätsmanagement unter die Lupe genommen. Der Titel zitiert einen Propagandaslogan von Frontex (ABC = Automated Border Control), und die bislang sechs realisierten Teile befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten der Mobilitätskontrolle, von der zunehmend maschinellen Erfassung sogenannter „Datensubjekte“ (wie die potenziellen Invasoren in offiziellem EU-Lingo heißen) bis hin zum Fokus auf die inzwischen verbreitete Menschenjagd (Simple as ABC #4: The Museum of Human Hunting, 2019). Bellinck geht sorgsam um mit den von ihm entworfenen bzw. präsentierten Szenarien, die eine andere visuelle Ökonomie von Migration als die aktuell vorherrschende in Aussicht stellen.
Wie sich diese Ökonomie, ob visuell, libidinös oder politisch, weiter ausformen wird, welche Trümmer, ruinösen Landschaften oder potenten Gegenszenarien sie hervorbringen wird, davon gaben die Diskursmaschen und -fäden von Europamaschine vielerlei anregende (wie auch erschreckende) Ahnungen. Die europaweit geltenden Rahmenkonstrukte, von deren Stabilität wir heute noch vielfach überzeugt sein mögen, werden uns vielleicht irgendwann fatal in den Rücken fallen. Als künftige Ruinen, deren Einsturz wir, in die falsche Richtung blickend, zu lange nicht auf uns zukommen haben sehen.

Europamaschine, 17. Januar bis 12. März 2020, Kasino am Schwarzenbergplatz;
https://www.burgtheater.at/europamaschine

 

 

1 Die einzelnen Panels sind in voller Länge auf dem YouTube-Kanal der Kunsthalle Wien nachzusichten; https://www.youtube.com/channel/UCnTQxLNDQgT5zyseyt6fqCA.