Heft 3/2020


Post-Anthropozän

Editorial


Erderwärmung, irreparabler Klimaschaden und das drohende Unbewohnbarwerden des Planeten waren bis zum Ausbruch der aktuellen Krise in aller Munde. Oder genauer gesagt: Sie waren endlich in das Bewusstsein einer größeren Allgemeinheit getreten, sodass auch die Politik nicht mehr ignorant an ihnen vorbeiregieren konnte. Dass diese Themen nun vorübergehend in den Hintergrund gedrängt werden, heißt nicht, dass man einer Lösung der zugrunde liegenden Problematik in irgendeiner Weise nähergekommen wäre. Eher im Gegenteil, lassen die weltweit getroffenen COVID-19-Maßnahmen doch vermuten, dass Klima- und Umweltfragen gegenüber akut lebensbedrohlichen Aspekten wohl auf lange Zeit als nachrangig erachtet werden. Allein die Vermutung, welche Mittel die Rettung „der Wirtschaft“ in nächster Zeit aller Voraussicht nach auf sich ziehen wird, lässt diesbezüglich nichts Gutes erahnen.
Dabei hatte es knapp zwei Jahrzehnte gedauert, bis der sogenannte Anthropozän-Diskurs von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Seit der niederländische Meteorologe Paul J. Crutzen im Jahr 2000 den Begriff geprägt hatte, verging einiges an Zeit, bis der Diskurs darüber in anderen Bereichen – von der Kultur bis hin zur Politik – aufgegriffen wurde. Vergleichsweise früh begann man sich in dieser Phase auf künstlerischer Seite mit den menschgemachten Veränderungen der Erdoberfläche und Atmosphäre, wie sie der Anthropozän-Ansatz herausgestrichen hatte, auseinanderzusetzen. Dass dies nicht immer nach streng wissenschaftlichen Kriterien erfolgte, dafür aber mit unterschiedlichsten ästhetischen Sensorien, wissensproduzierenden und aktivistischen Impulsen, mag angesichts der Dringlichkeit des Themas verzeihlich erscheinen. Wichtig war, dem neuen Denkansatz als Teil einer neuen, umfassenderen ökologischen Ethik zum Durchbruch zu verhelfen (wofür einzelnen Institutionen wie das Berliner Haus der Kulturen der Welt wichtige Pionierarbeit leisteten, während der Kunstbetrieb im Allgemeinen dieser Entwicklung nur zögerlich folgte).
Warum nun gleich „Post-Anthropozän“? Dafür sind mehrere Überlegungen ausschlaggebend. Zunächst einmal nimmt diese Ausgabe die aktuelle Lage zum Anlass, um über den Status quo einer nur schwer in den Griff zu kriegenden globalen Pandemie hinauszudenken. Nach der Krise heißt in gewisser Hinsicht auch nach „dem Menschen“ bzw. dem von ihm geprägten Erdzeitalter – geht der Ausbruch der Pandemie doch zu einem Gutteil auf genau jene Grunddisposition zurück, aufgrund derer sich auch die Erdoberflächen- und Klimabeschaffenheit radikal zu verändern begonnen hat. Die Frage lautet also: Welche Zukunftsszenarien sind denkbar, in denen nicht nur die virale Bedrohung der Menschheit, sondern auch der anthropogene Faktor (die von Menschen initiierten Prozesse und damit einhergehenden Devastationen) an destruktiver Wirkmacht verliert? Lassen sich Modelle finden, wie menschliche und nicht menschliche Lebensformen auf andere Weise als bisher bekannt koexistieren können? Und welche künstlerischen Projekte weisen diesbezüglich in eine visionäre, gewohnte Denkmuster hinter sich zurücklassende Richtung – Ansätze, die nicht allein an die Notlage des Planeten gemahnen oder die gegenwärtige Krise dokumentarisch festschreiben?
All diese Aspekte sind implizit in dem Präfix „Post“ angelegt, auch wenn dieses auf Anhieb (nicht zuletzt auch wegen seiner inflationären Verwendung) vermessen erscheinen mag. So fragt Olga Goriunova, welche Subjektkonzeption dem Anthropozän-Denken zugrunde liegt und wie diese, sofern man über dieses Denken hinausgelangen möchte, sinnvollerweise erweitert werden kann. Dass sie die widerspenstigen biologischen Subjekte Kefir und Borretsch als ihre Kronzeugen anführt, deutet bereits die Richtung an, in welche diese Art von Erweiterung zielt. Maria Puig de la Bellacasa nimmt in ihrem Beitrag die besondere Rolle des Erdbodens [soil] in Augenschein, um daran die Möglichkeit eines sich wandelnden Mensch-Umwelt-Verhältnisses festzumachen. Wie dringend nötig eine diesbezügliche Veränderung ist, und zwar in Richtung einer Neubelebung, zeigen Beispiele von ökologischem Aktivismus, die Puig de la Bellacasa ebenso in ihre Argumentationslinie aufnimmt wie die Kunst der früh verstorbenen Ana Mendieta.
Inwiefern „Leben“ – Kern jeder umweltaffinen Wiederbelebung – bis dato einer höchst zweifelhaften Einschränkung und Priorisierung von menschlichem Leben unterliegt, wird von Kathryn Yusoff erläutert. Yusoff spricht sich für ein stärkeres In-Betracht-Ziehen von geophysischen bzw. geologischen Faktoren aus, um so zu einer dringend nötigen politischen Kontextualisierung der anthropozentrischen Biomacht fortzuschreiten. Dass diese Macht stets auf eine ganz bestimmte Konzeption von „Anthropos“ abgezielt hat, ist kein Geheimnis. Doch wie Claire Colebrook in ihrem Essay darlegt, sind dem damit implizierten „Wir“ klare (und erschreckende) Grenzen gesetzt. Grenzen, welche die Autorin über die Geschichte der Sklaverei bis hin zu immer noch wirksamen kolonialistischen Dispositiven nachverfolgt. Anna Tsing schließlich setzt sich mit der Idee einer „neuen Wildnis“ auseinander und liefert, dargestellt anhand einer sich weltweit ausbreitenden Kletterpflanze, ein Paradebeispiel für eine mehr-als-menschliche Ökologie, der auch die übrigen Beiträge dieser Ausgabe verpflichtet sind.
Wie diese mehr-als-menschliche Gemeinschaft konkret verfasst sein könnte, veranschaulichen auch die künstlerischen Beiträge in diesem Heft (von bislang oft übersehenen KünstlerInnen wie Stefan Bertalan oder Horia Bernea). Sie alle zeigen Wege und Visionen eines gerechteren „Danach“ auf. Ist es nicht an der Zeit, so die leitmotivische Frage dahinter, neue Sensorien und Erfahrungsmodi zu entwickeln, um die Limitationen des Anthropozän-Denkens gerade auch angesichts neuer Herausforderungen zu überwinden? Eine Frage, auf welche die Herbst-Ausgabe so gegenwartsrelevante wie zukunftsweisende Antworten zu geben versucht.