Heft 3/2020 - Artscribe


The Botanical Mind Online: Art, Mysticism and The Cosmic Tree

6. Mai 2020 bis 31. Juli 2020
Camden Art Centre (online) / London

Text: Jörn Ebner


London. Die Bedeutung von Naturwahrnehmung, deren religiös-philosophische Verfasstheit sowie der daraus resultierenden kulturellen Ausprägungen sind das übergreifende Thema von The Botanical Mind Online. In dieser Online-Ausstellung werden alle Register hyperverlinkter Informationskonstellationen gezogen. Umfangreich ist neben dem primären Ausstellungsmaterial das Informationsangebot an PDF-, Podcast- und Videodateien, sodass der Eindruck entsteht, es handle sich hier um eine Art Online-Katalog und weniger um eine klassische Ausstellung, denn das Internet tritt als künstlerisches Medium nicht hervor. Es gibt viel zu lesen, das Bildmaterial ist eher kleinformatig und lässt sich auch nicht vergrößern. Nur die Intro-Page ist mit einem seitenfüllenden, stimmungsvollen Bild unterlegt. Problematisch erscheint mir die starke Bindung der Dateien an Google (Drive und YouTube).
Die sechs Kapitel von The Botanical Mind Online stehen jeweils unter philosophischen Patenschaften. Hervorgehoben werden die wiederkehrenden Baummotive bei Carl Gustav Jung (1875–1961), der sie als symbolische Bilder seines Unterbewussten aufgezeichnet hatte. Der Lebensbaum – Tree of Life, so der Titel des ersten Kapitels – ist aber in vielen Kulturen und Religionen über Jahrhunderte eine Naturdarstellung von metaphysischer Tragweite. Neben Jungs eigenen Bildern werden Darstellungen vom Mittelalter bis heute als Belege bemüht. Als zeitgenössische Entsprechungen treten der dänische Künstler Alexander Tovborg und die Britin Linder auf. Ersterer befasst sich mit den Zusammenhängen von Religion und Nachhaltigkeit. In der Ausstellung wird dies mit einer Textperformance über die spirituelle Gemeinde Damanhur und mehreren großformatigen Gemälden auf einem Foto dokumentiert. Linders Beitrag besteht aus Collagen, die das menschliche Gesicht mit Fauna und Flora überlagern. Quasi als Urmutter mystisch-musischer Naturbetrachtung wird schließlich Hildegard von Bingen (1098–1179) eingeführt. Sie war Äbtissin der Benediktiner, verfasste religiöse Traktate, untersuchte die Wirksamkeit von Kräutern und schrieb musikalische Werke, die bis in die Neue Musik der Gegenwart Bedeutung haben. (Im Verlauf von The Botanical Mind Online wird auf dieses Multitalent und ihre „ökologische Theologie“ wieder Bezug genommen.) Adam Chodzko ließ sich durch von Bingen zu einer neuen Videoarbeit inspirieren, die deren Mystik mit digitalen Mitteln auf den Grund geht: Während die Kamera Natur betrachtet, überlagern Text und gesprochenes Wort die Bilder, mit dem Ziel, ein zeitgenössisches Äquivalent zu den mittelalterlichen Betrachtungen zu bilden. Interessant sind die Arbeiten von Andrea Büttner, die auf konkrete Pflanzen und historische Orte verweisen und dabei mitschwingende kulturelle Widersprüche und Gleichklänge ansprechen: Die Moose im Moss Garden (2014) verweisen auf Geld (im deutschen Sprachgebrauch) und verschämte Sexualität; bei Kartoffeln klingt der Widerspruch von ästhetischer Form und ökonomischer Basis an; und Gewächshäuser stehen hier emblematisch für die Verdrängung der deutschen NS-Vergangenheit – in ihrer Fotoserie Former plant beds and greenhouses from the herb gardens and plantation at the Dachau Concentration Camp, 2019–20, über einen 1964 neu gegründeten Karmeliterorden neben dem Konzentrationslager Dachau.
Auch im folgenden Kapitel Sacred Geometry – geheiligte Geometrie – werden die Verbindungen von spiritueller Philosophie (vertreten durch Rupert Sheldrake, der in Pflanzenformen eine wissenschaftlich nachweisbare Grundtendenz von Schönheit ausmachen will) und Malerei hergeleitet. Der Minimalismus von Giorgio Griffa dient in diesem Kontext als Beispiel einer individuell geprägten Weltsicht, in der die Natur Auslöser für Malerei als quasi spirituelle Handlung ist.
Im dritten, Indigenous Cosmologies betitelten Kapitel geht es um die Weltsichten kleiner indigener Volksgruppen, die im Regenwald leben und Existenz in starker Einheit mit der Natur verstehen. Das französische Duo Priscilla Telmon & Vincent Moon führt mit dokumentarischen Filmen in brasilianische Amazonaskulturen ein; die argentinische Künstlerin Delfina Muñoz de Toro trägt zum Verständnis mit farbenfrohen Naturbildern und kontemplativer Musik bei; und schließlich werden noch Anni (1899–1994) und Josef Albers (1888–1976) als anthropologische SpurensucherInnen untersucht. Die zwischendurch eingesprengselten Abbildungen indigener Webkunst dienen als Beweise für die tiefe Durchdringungen von Spiritualität in deren visuellen Formen (hier: Webmuster) – und langsam wird eine Parallelisierung mittelalterlicher und indigener Kultur als Urformen im Sinne der Jung’schen Archetypen sichtbar.
Denn von hier geht es wieder zurück nach Europa, in die frühe Neuzeit, ins Mittelalter und in die griechische Antike, zu Robert Fludd, Hildegard von Bingen und Gaia, um die zeitlich übergreifenden Prinzipien jenes aus der Natur abgeleiteten zentristischen Weltbilds einer „Astrological Botany“ (Astrologische Botanik) darzustellen. Illustrativ hier: die surrealistische Malerei und exaltierte Poesie der britischen Malerin und Okkultistin Ithell Colquhoun (1906–88) und die an Fossiliengestein erinnernden Bildformen der deutschen Künstlerin Kerstin Brätsch.
Darauffolgend (im Kapitel As within, so without) werden nochmals die Jung’schen Archetypen herangezogen und die darauf aufbauenden Kreisformen der Mandalas, die einen hohen Stellenwert in den detailreichen Zeichnungen des amerikanischen Experimentalfilmers Bruce Connor (1933–2008) aufweisen. Von dort wird zum Konzept einer „Musik der Sphären“ übergeleitet, das wiederum in den abstrakten Filmen von Jordan Belson (1926–2011) eine visuelle Entsprechung erfuhr. Die Theosophen Annie Besant (1847–1933) und Charles Leadbeater (1854–1934) entwickelten zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Formen der Natur eine okkulte Chemie, die wiederum eine gedankliche Nähe zu Rupert Sheldrake aufzuweisen scheint: Die Natur des Gedankens, so Besant und Leadbeater, bestimmt Farben und Formen.
Abschließend wird in Vegetal Ontology (vegetale Ontologie) quasi eine Metaphysik der Pflanzenwelt heraufbeschworen, illustriert durch Filme von F. Percy Smith (1880–1945), die die „intime Welt der Pflanzen“ abbilden. Aber eigentlich kommen Philosophen zu Wort: Michael Marder und noch einmal Rupert Sheldrake. Marder vergleicht klassische Philosophen mit Pflanzen, hier liest er in einem kurzen Auszug die Ontologie Plotins (ca. 204/5–270) – Das Eine – analog zu Wurzeln, Stamm und Spitze eines Baums. Womit sich der Kreis zum anfänglichen Lebensbaumthema schließt.
Die Faszination, die Werke von Hildegard von Bingen oder von Robert Fludd auf mich ausüben, entsteht durch die zeitliche Distanz zwischen deren Entstehung zum Heute sowie der emotionalen Verbundenheit von Religion und Naturbetrachtung. In einer Zeit, in der Klimawandel, Klimaschutz, Umweltschutz im Zentrum politischer Debatten stehen, wirkt die zuweilen unkritisch weitergereichte Esoterik der Online-Ausstellung über zeitgenössische Mystiker wie Sheldrake befremdlich. Da Bilder nicht groß dargestellt werden können, leisten sie auch keinen Ausgleich zu den Textinhalten. Aber vielleicht kann das die bald öffnende physische Ausstellung leisten.