Heft 3/2020 - Post-Anthropozän


Unbequeme Subjekte – Kefir und Borretsch

Olga Goriunova


Menschen zerstören die Erde; einige mehr als andere. So lassen sich die Diskussionen über den Begriff des Anthropozäns stark vereinfacht auf den Punkt bringen. Die erste Aussage thematisiert die durch die Menschheit hervorgerufenen, unwiderruflichen Veränderungen in der Geologie des Planeten und die damit verbundenen Folgen: die Erderwärmung, die Umweltverschmutzung und das sechste Massenaussterben. Die zweite Aussage hält dagegen, dass so etwas wie „die Menschheit“ gar nicht existiert und die Last der Verantwortung – sowohl was die Verursachung der Veränderungen (bei der Akkumulation von Wohlstand) als auch das Projekt des Überlebens angeht – unterschiedlichen Ländern, Ethnien, Geschlechtern und Klassen auf unterschiedliche Weise zufällt.
WissenschaftlerInnen diverser „Studies“1 haben dargelegt, dass die Idee eines (menschlichen) Subjekts, welche der Vorstellung von „Menschheit“ zugrunde liegt und im Zeitalter der Aufklärung eingeführt wurde, untrennbar mit Herrschaft und Gewalt verbunden ist. Die Autonomie, die Verantwortung und die Fähigkeit zu eigenem Handeln, die ein menschliches Subjekt erwirbt, wenn das Wesen des „Menschseins“ jenseits von Gott und der unsterblichen Seele als Denkprozess, der im eigenen Kopf abläuft, neu definiert wird, werden zuerst und vor allem weißen Männern des globalen Nordens zugestanden. FeministInnen und WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Critical Race und Disability Studies und davor schon MarxistInnen haben vorgebracht, dass die Idee eines freien menschlichen Subjekts erst durch das Othering von Frauen, Indigenen, Schwarzen, Behinderten und Armen konstruiert werden kann. Damit rückt die Erweiterung des Subjektseins auf andere ins Zentrum der Auseinandersetzung. Eine Möglichkeit zu kämpfen besteht darin, den Subjektstatus einzufordern, sprich gesetzlich anerkannt zu werden. Das ist das Projekt der Identität – und der rechtlichen Anerkennung von Erfahrungen wie Homosexualität oder Schwarzsein als gesetzlich geschützt und gedanklich entwickelt. Die andere Möglichkeit besteht darin, sich vollständig von der Idee des Subjekts zu lösen und stattdessen zu behaupten, der Mensch sei Teil all jener Kräfte, die ihn durchdringen, und die Subjektivierung, das heißt, jemanden zu einem Subjekt zu machen, sei stets eine einschränkende Festschreibung, die aus Gründen der Disziplin, Ausbeutung und Kontrolle vorgenommen wird und als solche nicht aufrechterhalten werden kann.
Ich rekapituliere diese Geschichte hier, um eine Argumentationsgrundlage für meine weiteren Ausführungen zu schaffen. Unser Umgang mit der „Natur“ ist unmittelbar verbunden mit unseren Vorstellungen vom Subjekt, von dem, was der Mensch ist und wie wir menschlich zu sein haben. Es wird häufig argumentiert, die Vorstellung von der Natur als Reservoir, als unbegrenzte und undifferenzierte passive Masse, die allen und jeden menschlichen Abfall aufnehmen kann, während sie die Menschen gleichzeitig ernährt und ihre Umwelt endlos am Leben erhält, gehe gedanklich mit der Vorstellung vom menschlichen Subjekt als ihrem Gegenpart einher: einem einzigartigen, aktiven und konzentrierten Hort der Energie, des Erfindungsgeists und der Intervention. Selbst bei dieser Beschreibung zeigt sich, wie die „Natur“ auf die (weibliche) Mutter ausgerichtet ist bzw. auf die Pflege und die Ressourcen, die von SklavInnen und DienerInnen eingebracht werden, die alle dem (männlichen) egozentrischen Kind bzw. weißen Herrn gegenübergestellt sind. Daher müssen die Versuche, die Klimakatastrophe zu überleben, im Einklang stehen mit 1. der Destabilisierung und Verkomplizierung der Idee des Subjekts; und/oder 2. der Ausweitung des Subjektstatus auf andere Menschen, nicht menschliche Tiere, Pflanzen und die Umwelt. Dies werde ich im Folgenden näher untersuchen.
Was Punkt eins betrifft, so kommen einige der jüngsten Anstrengungen zur Destabilisierung des Subjekts aus der Auseinandersetzung der kritischen Geisteswissenschaften mit der Biologie, speziell mit Bakterien. In dem Sammelband Arts of Living on a Damaged Planet findet sich eine ganze Reihe von Artikeln von BiologInnen, die die Vorstellung von menschlicher und tierischer Individualität untergraben.2 Ihnen zufolge enthalten nur die Hälfte der Zellen unseres Körpers das menschliche Genom. Die anderen Zellen würden etwa 160 unterschiedliche Bakteriengenome beinhalten. Dass Bakterien eine normale Entwicklung des Gehirns bedingen, wurde kürzlich durch die Hypothese der Darm-Hirn-Achse bekannt. Diese besagt, dass kognitive und emotionale Zustände Produkte des Bakterienstoffwechsels sind. Forschungen zeigen eine direkte Verbindung zwischen dem Angstniveau von Mäusen und der An- bzw. Abwesenheit von Bakterien in ihrem Darm. Auch scheint die Bildung von 95 Prozent des Serotonins im Blut von Säugetieren durch Bakterien angeregt zu werden, die in uns existieren. Außerdem beinhaltet Muttermilch Zucker, der den Bakterien im Darm des Babys als Nahrung dient. Diese helfen dabei, die Darmkapillaren und das Lymphgewebe vollständig auszubilden und begleiten die Entwicklungsschritte des Kinds auch nach der Geburt.3 Die Symbiose stört die Idee der menschlichen und tierischen Individualität auf vielen Ebenen, von der evolutionären und genetischen bis hin zur Entwicklungsebene und wird inzwischen umfassend von WissenschaftlerInnen erforscht, die sich auf die Vielzahl der komplexen Wechselbeziehungen und Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Lebewesen konzentrieren.
Kunst, die ihr Augenmerk auf Bakterien richtet und im weitesten Sinne mit lebendem Gewebe und Organismen arbeitet, rückte in den 1990er-Jahren, parallel zum Aufkommen des Word Wide Web, der Digitalkunst, dem digitalen Aktivismus und dem Beginn dessen, was später als die vierte industrielle Revolution bezeichnet werden sollte, erstmals in den Vordergrund. Sie kombinierte Hardware, Software und Biologie. Es lohnt sich, einen Blick auf die Beliebtheit von BioArt-Laboratorien mit „Citizen-Science“-Ansatz zu werfen, einhergehend mit einem breiten Interesse an Fermentation, das Bereiche wie Feinschmeckerblogs, einheimische Küche sowie kunstaktivistische Netzwerke und Events durchzieht.4 Simon Popes Projekt Here’s to Thee (2019–2020), das die mikrobielle Ökologie der Apfelmostherstellung erkundet, stellt Verbindungen her zwischen auf Apfelschalen lebenden Hefen und Menschen, die sich selbst überlassene Apfelbäume retten, sprich, es verknüpft traditionelle Verfahren der Apfelmostherstellung mit der Politik gemeinschaftlichen Handelns.5 Vielleicht liegt die Zukunft in der Erfindung neuer Rituale, um diese Multiplizitäten zu entdecken, wiederzubeleben und zu bekräftigen.
Wer schon einmal versucht hat, zu Hause Kefirknollen zu kultivieren, weiß, wie nervig die Kefirsubjekte sein können. Ungeachtet ihrer ökologischen Einbettung in das Netz des Lebens sind sie ziemlich eigen. Sie entwachsen ständig ihren Behältnissen, fordern mehr Platz, mehr Milch und mehr Pflege. Man kann sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Sie sind Lebewesen und lassen sich nicht ohne schlechtes Gewissen entsorgen. So sieht die Wirklichkeit des artenübergreifenden Zusammenlebens aus.
Was Punkt zwei betrifft, möchte ich gar nicht erst versuchen, Human-Animal-Studies oder Tierrechtsbewegungen zusammenzufassen, aber ich finde, sie bieten eine gewisse Grundlage dafür, das Leiden anderer – menschlicher oder anderer Lebewesen – gleichberechtigt zu betrachten. Ein Lebewesen, das ein Subjekt ist, darf nicht unmenschlich behandelt werden. Hier wird das Subjektsein ausgeweitet, indem unter anderem die Nerven-, Kommunikations- und sozialen Systeme anderer Lebewesen untersucht werden. Dabei ist die Anerkennung ihrer Einzigartigkeit, Komplexität und ihrer Fähigkeit, Schmerz, Liebe und Trauer zu empfinden, eine Möglichkeit, Menschen „anzustupsen“, ihre auf Grausamkeit beruhenden Ernährungs- und Kleidungsgewohnheiten aufzugeben. Es ist eine sehr positive Entwicklung, dass es in vielen europäischen Ländern inzwischen gewagt wäre, einen Pelzmantel zu tragen, und dass es unter jungen Menschen immer mehr VegetarierInnen und VeganerInnen gibt. Die Bewegung für die Personenrechte von Großen Menschenaffen hat erheblich an Sichtbarkeit gewonnen, und es gab Gerichtsfälle, in denen Menschenaffen per Gesetz der Status nicht menschlicher Rechtssubjekte sowie Personenrechte zugestanden wurde. Zu den Rechtssubjekten bzw. juristischen Personen zählen zum Beispiel auch Unternehmen. Wenn ein Unternehmen geschützt werden kann, ohne ein Mensch zu sein, können dann nicht auch andere Entitäten Subjektstatus erhalten? Etwa Flüsse und Täler. So gestand das höchste Gericht von Uttarakhand den Flüssen Ganges und Yamuna den Status juristischer Personen zu und ernannte TreuhänderInnen, um sie vor Verschmutzung zu schützen.
Bei Pflanzen wird es etwas komplizierter. Affen und andere Tiere sind empfindungsfähig, Flüsse und Täler sind groß und zeichnen sich dadurch aus, dass sie Lebensnetze aufrechterhalten. Außerdem neigen sie dazu, an Ort und Stelle zu bleiben. Wie lassen sich Pflanzen, vor allem solche, die einmal im Jahr ihr Laub abwerfen und in der Umgebung von Menschen wachsen, die sie meist nicht auseinanderhalten können, als Subjekte betrachten?
Die Pflanzenvielfalt ist wesentlich für das Überleben der Menschheit. Genetisch vielfältige Pflanzen sind weniger anfällig für Krankheiten und Viren. Sie bieten einen höheren Nährwert (etwa seltene Mineralstoffe) und spielen eine Rolle bei der Modulation von Immunantworten und Allergien. (Die Optimierung von Weizen hin zu nur wenigen Sorten und die Umstellung der Ernährung auf Weizenprodukte zulasten anderer alter Getreidesorten wie Hirse, Dinkel, Amaranth oder Khorasan-Weizen gehören zu den Ursachen für den Anstieg der Glutenunverträglichkeit.) Pflanzenvielfalt widerspricht den Methoden der Intensivlandwirtschaft, die den Boden auslaugen und Insekten, unter anderem Bienen, vergiften. Bis zu einem Drittel der zur Nahrungsgewinnung geeigneten, fruchtbaren Böden auf der Erde sind stark geschädigt, und durch den Einsatz von neonicotinoidhaltigen Herbiziden und Insektiziden werden Bienenvölker vernichtet. Neonicotinoide sind in der EU verboten, dafür wird selbst in meinem Schrebergarten jede Menge Unkrautvernichter der Marke Roundup verwendet. Roundup beinhaltet Glyphosat, das die Darmbakterien von Bienen schädigt und sie anfällig für Krankheiten macht. Offensichtlich sind bis zu 60 Prozent aller Vollkornbrote im Vereinigten Königreich mit Glyphosat belastet.
Pflanzen sind untrennbar verbunden mit Insekten, dem Boden und dem Pilz- und Bakteriengeflecht, das die Erde fruchtbar macht und die Insekten gesund hält. Der japanische Landwirt und Erfinder der „Nicht-Tun-Landwirtschaft“, Masanobu Fukuoka, listet eine ganze Reihe von ExpertInnen auf, die es bräuchte, um das Phänomen der Abertausend Spinnennetze zu verstehen, die im Herbst allmorgendlich auf den Stoppeln abgeernteter Reisfelder und auf Gräsern erscheinen, als würden sie sie mit Seide überziehen: AgrartechnikerInnen, WissenschaftlerInnen aller Art, EntomologInnen, PhilosophInnen, Religionsgelehrte, KünstlerInnen und DichterInnen.6 Diese beeindruckende Vielfalt an Stimmen unterstreicht die Komplexität von Wechselbeziehungen und eine gewisse Unmöglichkeit, Dinge voneinander zu trennen.
Das verdeutlicht, welcher Anstrengung es bedarf, um ein Verständnis für die tiefe Eingebundenheit von Tieren und Menschen in untrennbare lebendige Netze zu entwickeln und die Vorstellung von menschlichem Subjektsein und tierischer Individualität, wie zuvor erläutert, zu destabilisieren, während Pflanzen längst dort angekommen sind. Sie sind immer in Systeme eingebunden, sie sind immer Multiplizitäten. Über Pflanzen nachzudenken, erfordert das Beschreiten des umgekehrten Wegs. Man muss sie aus dem lebendigen Netz lösen, um sie als Personen, als Subjekte zu sehen. Natalie Jeremijenkos Projekt TREExOFFICE (2015) vereinte in der Zusammenarbeit mit einem Baum ökologisches und bürgerschaftliches Engagement, um in einem Park in East London einen Arbeitsraum für Menschen zu schaffen.7 Jeremijenko untersuchte, wie ein Baum, der Menschen seine Dienste anbietet, ein Einkommen „erwirtschaften“ und dieses zum eigenen Nutzen ausgeben könnte. Hier ist der Baum ein Subjekt, das die ihm von der Künstlerin zur Verfügung gestellten Kommunikationskanäle selbst steuert und rechtliche sowie finanzielle Interessen und Fähigkeiten hat. Es handelt sich, wie die Künstlerin sagt, um ein „korporatives Personsein“. Aus der aktuellen biologischen Forschung stammen Begriffe wie Pflanzenintelligenz oder -kognition sowie Pflanzenwahrnehmung und -kommunikation zur Beschreibung neuer Entdeckungen, die bei der Beobachtung von Interaktionen zwischen Pflanzen, zwischen Pflanzen und anderen Arten und der Reaktionen von Pflanzen auf die Umwelt gemacht wurden. Zudem erweitert diese Forschung die Vorstellung vom Subjektsein, allerdings auf ganz andere Weise als erwartet: weg vom Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein und von Subjekten mit einem Nervensystem, weg von einem bestimmten tierischen „Spezies-ismus“, hin zu Informationsgewinnung, Problemlösung, Gedächtnis, Kommunikation und Signalgebung, sowohl innerhalb der Pflanze als auch zwischen Pflanzen. Barbara McClintock, Anthony Trewavas, František Baluška, Francis Hallé, um nur einige BiologInnen zu nennen, verwenden den Begriff „Pflanzenintelligenz“, um über das Verhalten von Pflanzen zu sprechen, beispielsweise in Bezug auf das „abstrahierende“ Verhältnis zu den Wurzeln, durch die die Pflanze Informationen über sich selbst und ihre Umwelt bezieht. Pflanzen können ihre Lebensumstände „verstehen“, indem sie Signale wahrnehmen, reagieren und sich künftigen Herausforderungen anpassen. Pflanzen zeigen ein „Gedächtnis“ und ändern ihr Verhalten auf der Grundlage eigener Erfahrungen oder der ihrer Eltern. Pflanzen kommunizieren mit anderen Pflanzen, mit MutualistInnen (anderen Arten, die eine Koevolution durchlaufen haben) und mit PflanzenfresserInnen. Die Pflanzenneurobiologie betrachtet Pflanzen als Entitäten, die zu komplexer Informationsverarbeitung fähig sind, wobei die Kommunikation zwischen den Prozessen innerhalb jeder einzelnen Pflanze stattfindet, die mit koordinierten Verhaltensänderungen auf bestimmte Erkenntnisse reagiert. Pflanzen zeigen viele Verhaltensweisen, die denen von Tieren ähneln, obwohl sie kein Nervensystem besitzen.
Die konzeptuelle Tendenz zur Destabilisierung des Subjektseins (Punkt eins meiner Argumentation) kann und wird radikal ersetzt durch die Ausweitung des Subjektstatus (Punkt zwei). Tatsächlich besteht im Grunde kein Widerspruch zwischen der Destabilisierung des Subjektbegriffs zur Hervorhebung der Relationalität und der Anerkennung des Subjektseins relationaler Systeme und ihrer Bestandteile. Während die Idee des Subjekts durch die Demonstration seiner Durchlässigkeit, seines symbiotischen Daseins und seiner radikalen Abhängigkeit von der Umwelt untergraben wird, beginnt sich die Vorstellung vom Subjektsein auf andere Artenbestände und Umweltsysteme als Ganzes zu erstrecken. Wenn die Umwelt nicht allein als Vermittlerin zwischen Menschen betrachtet wird und Ökozid nicht mehr ausschließlich als Schädigung anderer Menschen gedacht wird, können Populationen natürlicher Arten auch als Subjekte angesehen werden. Dazu müssen sie keine menschenähnlichen Subjekte sein, sondern Subjektsysteme mit eigenen Bedürfnissen oder systemische Subjekte. So sieht es die gegenwärtige Entwicklung der Rechte der Natur vor, die unter anderem Erfolge wie die Anerkennung des Te-Urewera-Walds in Neuseeland als juristische Person zu verzeichnen hat.
Es bleibt jedoch die Frage, ob es ausreicht, die Personenrechte anderer Arten, insbesondere von Pflanzenarten, in Anlehnung an die Menschenrechte anzuerkennen, wenn die Einzigartigkeit nicht menschlicher Arten oder artenübergreifender Umgebungen die Einzigartigkeit des einzelnen Menschen zum Vorbild hat. Wozu diese Unterscheidung zwischen Tieren und Nichttieren? Einzelne Tiere können und wurden bereits als „juristische Personen“ anerkannt. Wenn wir Nichttiere als Gesamtheit behandeln, schieben wir dann nicht das Problem der Ausbeutung auf der Leiter des Lebens weiter nach unten? Emanuele Coccia schreibt, man könne Pflanzen „weder physisch noch metaphysisch“8 von ihrer Umwelt trennen. Solche Aussagen sind verwirrend. Ich kann eine Pflanze ausgraben, um einen Pfosten einzuschlagen. Und gerade schreibe ich über Pflanzen, löse sie somit aus ihrem Kontext metaphysisch heraus. Sollten wir die Welt nicht wie Alfred North Whitehead als durch und durch aus Subjekten zusammengesetzt betrachten? Einen einzigen Kirschbaum unnötigerweise zu fällen oder eine Stockrose auszurupfen gefährdet nicht die Art, kann aber dennoch verheerend sein. Gefühllosigkeit und Achtlosigkeit sollten nicht entschuldigt werden.
Pflanzen erfordern mehr Nachdenken. Sind Pflanzen immer eine Population, eine Art, ein Kollektiv? Birgt das nicht die Gefahr, sie als „Masse“ zu behandeln, als ein Medium der menschlichen Maßlosigkeit? Und das zu missachten, was wir vor uns haben, weil es stets mehr davon gibt? Was kann eine Pflanze zum Subjekt machen und sollte sie überhaupt subjektiviert werden?
Der ontologische Status von Pflanzen befindet sich in stetem Wandel. Pflanzen sind eine Art Ding. Da sie aber Kohlendioxid verbrauchen und Sauerstoff produzieren, sind sie auch die Voraussetzung für alle möglichen anderen Dinge. Sie sind Lebewesen und Umwelt, Leben und Lebensbedingung. Sie sind in einem Ausmaß in Lebenskreisläufe eingebunden, das Tiere nicht erreichen. Und sie knüpfen Beziehungen zu Pilzen und Bakterien im Erdboden, mit denen sie ihre ontologischen Auseinandersetzungen teilen und einen erweiterten Organismus bilden. Studien zu der Art und Weise, wie Bakterien und Pilze Nährstoffe zwischen Erde und Baumwurzeln austauschen, wie etwa die bekannten Untersuchungen zum „Wood Wide Web“9, und kulturtheoretische Arbeiten über den Boden wie die von Maria Puig de la Bellacasa,10 erforschen und bestätigen, was schon innerhalb indigener und traditioneller Praktiken der Bodenbearbeitung bekannt war und beachtet wurde: Der Boden lebt und birgt ein enormes Netzwerk ungeahnter Wechselbeziehungen.
Pflanzen sind sowohl unabhängige Arten, die gedeihen, wo immer sie können, als auch kooperative Instrumente der Gewalt. Die Künstlerin Maria Thereza Alves arbeitet seit Langem mit Pflanzen. Ihr Projekt To See the Forest Standing (2017) dokumentiert die Praktiken von WaldhüterInnen in Brasilien, die unter anderem gegen die verheerenden Folgen von Eukalyptuspflanzungen vorgehen, die den Boden versauern lassen und zum Absterben des Regenwalds führen. Ihr Projekt Seeds of Change (fortlaufend seit 1999) untersucht die „Ballastflora“ von Hafenstädten mit dem Augenmerk auf Imperialismus, Kolonialismus und die Frage, was „das Einheimische“ heute ausmacht.11 Die koloniale Nutzung von Pflanzen und die Geschichte von Zuckerrohr- und Baumwollarten als Grundlage der Sklaverei dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Mir wurden das Ausmaß und die Brutalität des globalen Kolonialprojekts erst bewusst, als ich eine BBC-Dokumentation über die Gärten der Welt sah. Das Filmteam fuhr während des Drehs in Neuseeland an Weiden und Straßenrandvegetation vorbei, die eindeutig europäisch aussahen. Schließlich erreichten sie ein Naturschutzgebiet, in dem die ursprüngliche Pflanzenwelt wiederhergestellt worden war – eine einzigartige Flora, völlig anders als die gewöhnlichen europäischen Pflanzen. Die gesamte Flora Neuseelands ist das Ergebnis der Kolonisation. Nicht nur menschliche Populationen wurden während der Kolonisation ausgelöscht, sondern die gesamte pflanzliche Umwelt. Die gewaltige Landschaft wurde unwiederbringlich zerstört. Stellen Sie sich vor, Sie bereisen die Welt und sehen überall das Gleiche. Englische Rosen in Kalifornien und englische Cottage-Gärten in Südafrika lassen Pflanzen als tief in eine derartige soziopolitische Vergangenheit und Gegenwart verwickelt erscheinen. Hier verhalten sich Pflanzen den Menschen gegenüber sowohl ungehorsam als auch zu gehorsam.
Pflanzen sind paradox. In diesem Frühjahr habe ich Borretsch ausgesät, Borago officinalis, eine Pflanze mit wunderschönen blauen Blüten und haarigen Blättern mit Gurkengeschmack. Sie erreichten eine gute Größe, und vor einigen Tagen habe ich einige ihrer Blüten in Eiswürfeln eingefroren. Borretsch wird seit der Antike weithin verwendet und wurde von den RömerInnen in ganz Europa verbreitet. Er findet Anwendung in der Heilkunde und ist Teil der kulinarischen Tradition Italiens, Spaniens und Deutschlands. In Ligurien ist er als borragine bekannt und dient als Raviolifüllung, in Frankfurt ist er eine Zutat der berühmten Grünen Soße. Er produziert große Mengen Nektar, lockt Bienen an und gehört zum Grundstock von Permakulturgärten. Als ich versuchte, die haarigen Blätter zu kauen, las ich, dass Borretsch Pyrrolizidinalkaloide enthält. Sie sind lebertoxisch und können Leberkrebs verursachen. Als klassisches Pharmakon, Gift und Heilmittel ist diese listige Pflanze ambivalent und betreibt die Kunst des Kriegs auf ihre Weise.
Diese Untersuchung lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Wenn die Aufmerksamkeit auf Symbiose, Wechselbeziehungen und Ökosysteme verlagert wird, besteht dann nicht die politische Gefahr, die gegenwärtigen Rechtssysteme und ihre jeweiligen Fassungen aus den Augen zu verlieren und nicht für die so dringend nötige Verteidigung der verschiedenen ErdbewohnerInnen nutzen zu können? Sind Subjektsein und Personenrechte Teil eines unseligen Erbes und daher aufzugeben? Oder sollten sie auf eine Art und Weise eingefordert werden, die durchlässige Grenzen, Wechselbeziehungen und gegenseitigen Respekt berücksichtigt? Ist es möglich, Subjektsein bzw. Personenrechte in Bezug auf Pflanzen zu denken? Und ist es wichtig, das zu tun? Gibt es einen Unterschied zwischen einer aus Subjekten bestehenden Welt und einer Welt vernetzter Ökosysteme? Durch meine Interaktionen mit den Subjekten Kefir und Borretsch neige ich zu einer bestimmten Denkrichtung, aber ich würde von anderen nicht verlangen, mir zu folgen. Stattdessen muss ich mich um meine Sauerrahm produzierenden Bakterien kümmern – sie scheinen eigene Vorstellungen davon zu haben, wie es mit ihrem auf Milch basierenden Leben weitergehen soll.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] In der von Rosi Braidotti vorgeschlagenen Genealogie sind es die „studies“ – postkoloniale und kulturkritische Studien, Critical Race und Gender Studies, Medien-, Film- und Software-Studien sowie Human Animal und Disability Studies –, aus denen die radikalen Erkenntnistheorien hervorgegangen sind, die in den letzten 30 Jahren neue Methoden und Konzepte geliefert haben, welche in der Lage sind, das Projekt der Humanwissenschaften zu hinterfragen und zu erneuern. Vgl. Rosi Braidotti, The Contested Posthumanities, in: Rosi Braidotti/Paul Gilroy (Hg.), Conflicting Humanities. London 2016.
[2] Vgl. Anna Tsing/Heather Swanson/Elaine Gan/Nils Bubandt (Hg.), Arts of Living on a Damaged Planet. Minneapolis 2017.
[3] Vgl. ebd., S. 75, 79.
[4] Vgl. Sandor Ellix Katz, Wild Fermentation. The Flavor, Nutrition, and Craft of Live-Culture Foods. Vermont 2016.
[5] Vgl. https://sites.google.com/site/ambulantscience/Index/here-s-to-thee-a-wassail-song-for-the-ecology-of-cider-making.
[6] Vgl. Masanobu Fukuoka, The One-Straw Revolution. Mapusa, Goa 1992, S. 25–33.
[7] Vgl. http://www.digiart21.org/art/treexoffice.
[8] Emanuele Coccia, The Life of Plants. A Metaphysics of Mixture. London 2019, S. 5.
[9] Vgl. Manuela Giovannetti/Luciano Avio/Paola Fortuna/Elisa Pellegrino/Cristiana Sbrana/Patrizia Strani, At the Root of the Wood Wide Web, in: Plant Signaling & Behavior, Nr. 1, 2006, S. 1–5.
[10] Maria Puig de la Bellacasa, Matters of Care, Speculative Ethics in More Than Human Worlds. Minneapolis 2017.
[11] Vgl. http://www.mariatherezaalves.org/works/seeds-of-change?c=47.