Heft 3/2020 - Netzteil


Unterwegs zur Öko-KI

Zu Roberto Simanowskis spekulativer Rettung der Welt

Christian Höller


„Nur noch ein Gott kann uns retten.“ An diesen berühmten Ausspruch Martin Heideggers im Jahr 1976 fühlt man sich unweigerlich erinnert, wenn man Roberto Simanowskis Ausführungen zur erwartbaren Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) und den damit verbundenen Dilemmata liest. War Heideggers fatalistischer Seufzer noch auf die ersten Weltallaufnahmen der Erde und, damit zusammenhängend, die unumkehrbare Objektwerdung alles Seienden gemünzt, so ist die Reduktion des Seins auf rein „technische Verhältnisse“ heutzutage nahezu lückenlos perfekt. Was wiederum Simanowski in seinem Buch Todesalgorithmus1 dazu veranlasst, Advocatus-Diaboli-mäßig über die Rettung der Welt gerade mittels dieser – inzwischen dramatisch fortgeschrittenen – technischen Mittel zu spekulieren. Nicht ein Gott ist es laut Simanowskis provokanter These, der den drohenden und hochwahrscheinlich gewordenen Klimatod noch abwenden könnte, sondern einzig eine rechtzeitig in Stellung gebrachte KI.
Doch alles der Reihe nach: Todesalgorithmus beschreibt – und benennt – zunächst jene Art von Programmierung, die mit KI operierenden Maschinen nolens volens eingepflanzt werden muss, um im Katastrophenfall den von ihnen angerichteten Schaden so gering wie möglich zu halten. Akzeptiert man diese Formulierung, so ist man der mit dem technokratischen Denken eng verknüpften Ethik – der utilitaristischen bzw. konsequentialistischen – auch schon aufgesessen. „Den Schaden möglichst gering halten“ verweist nämlich per se auf eine Aufrechnungslogik, die lange vor jeder Künstlichen Intelligenz Einzug in die Moralphilosophie genommen hat und mit ihrem erbitterten Gegner, der auf Kant zurückgehenden Pflichtethik, seit Jahrhunderten im Clinch liegt. Das Prinzip, Menschenleben nicht gegeneinander verrechnen zu können, egal, wie fundamental man es vertreten mag, stößt jedoch mit fortschreitender Technisierung zunehmend an seine Grenzen – vor allem weil der Digitalisierung das Verrechnen von allem und jedem unumstößlich mit einprogrammiert ist. Ob man will oder nicht, muss bei autonomen Fahrzeugen stets auch die Option mitbedacht werden, ob ein außer Kontrolle geratenes Gefährt lieber drei die Straße querende Schulkinder als den greisen Fahrzeuginsassen töten soll (oder umgekehrt, tertium non datur).
So umreißt Simanowski das Dilemma der KI, das er anhand zahlreicher Beispiele – vom MIT-Projekt Moral Machine bis hin zu Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama Terror – brillant darstellt. Noch spannender aber wird Simanowskis Projektion einer kommenden KI, sofern sie Schlüsse aus diesem unumkehrbaren Abbau der „Würde des Menschen“ zieht – soll heißen: sofern sie die schleichenden ethnischen Standardisierungen aufgrund der mittels Digitalisierung herbeigeführten neuen „Sachordnungen“ (ein Begriff von Georg Simmel) weiterdenkt. Das freie, souveräne, selbstbestimmte Individuum, Mittelpunkt jeder Pflichtethik, tritt darin allenfalls noch als geisterhaftes Nachbild auf – eine ehemalige Größe, die allzu lange den (verkehrten) Lauf der Welt bestimmt und diese an den Rand des Abgrunds geführt hat, nun aber besser sein Zepter an die rettende Technik abtreten sollte. Eine Technik, die sich nicht in Illusionen eines vermeintlich freien Willens ergeht, sondern schlicht und ergreifend objektiv errechnet, was unter gegebenen Umständen zu tun ist, um den größtmöglichen heilenden Effekt für die größtmögliche Allgemeinheit zu haben.
Wen all das an die laufend aktualisierten COVID-19-Maßnahmenpakete erinnert, der/die hat nicht unrecht. Doch Simanowski würde – in seinem spekulativen What-if-Szenario – den ganzen überhasteten Gesetzesmurks und seine ständig nötige Neukalibrierung angesichts drohender Katastrophen ohnehin lieber gleich einer KI überlassen. Einer KI, die, wie er in dem Kapitel „Herrschaft der Maschinen“ ausführt, Züge einer global agierenden „AI-Nanny“, ja eines freundlichen „Masteralgorithmus“ aufweisen müsste. Freundlich heißt, dass diesem von der Menschheit angesichts des unabwendbaren (Klima-)Schadens mit Autorität ausgestatteten Deep-Learning-Netzwerk die Rettung des Habitats Erde als oberstes Ziel einprogrammiert werden müsste. Darüber hinaus aber nicht viel mehr, soll doch gerade von den vielen, diese Rettung permanent verhindernden (menschlichen) Einzelinteressen abstrahiert und so eine wahrlich globale Instanz geschaffen werden, die kulturelle oder politische Unterschiede einfach „überschreibt“. Dieser Öko-KI, man könnte sie auch digitalen Diktator oder elektronischen Autokraten nennen, würde es vorrangig um das Wohl der gesamten Menschheit, ja deren Überleben gehen – klarerweise um den Preis individuellen Wohlbefindens, wenn etwa der Kauf eines SUV oder Tausende Flugmeilen im personalisierten CO2-Konto untersagt würden. Dieser „Robespierre des 21. Jahrhundert“, so Simanowski, hätte klarerweise totalitäre Züge, würde jedoch unbestechlich das größtmögliche Glück aller (oder zumindest der größtmöglichen Anzahl von Menschen), ja einen „postbabylonischen Universalismus“ befördern. Eines Universalismus mithin, der endlich Schluss machen würde mit dem Privileg des weißen männlichen Idioten.
An diesem Punkt beginnt die Sache sich – von Simanowski bewusst in Kauf genommen bzw. aktiv befördert – zu spießen. Ist doch auch Silicon Valley bzw. wo sonst gerade die vielversprechendste Arbeit an einem Masteralgorithmus stattfindet, zentraler Bestandteil genau jenes „white Northern Manthropocene“, das es zu überwinden gilt. Die weltumspannende Installation der Öko-KI müsste also just auch jenes Ingenieurs- und Technokratiedenken, das sie überhaupt erst ermöglicht hat, hinter sich zurücklassen und nach eigenem – soll-heißen: möglichst global-gerechtem – Dafürhalten operieren. Deep Learning bzw. die kontinuierliche Ausweitung der „starken“ (im Gegensatz zur „schwachen“, regelbasierten) KI weist genau in diese Richtung, da sie, einmal in Stellung gebracht, eine „höhere“ Intelligenz zu entwickeln imstande wäre als alles menschliche Denken (mit all seinen Widersprüchen bzw. Widerspenstigkeiten) zusammen. Die Tech-Giganten bzw. ihre humanen RepräsentantInnen wären demzufolge nicht mehr als Erfüllungsgehilfen jenes Weltgeists, der die größtmögliche Vernunft in sich vereinigt und alles bisherige Denken in Sachen Weltrettung und Speziesvollendung „aufhebt“. Zuckerberg, Bezos, Musk etc. wären gemäß der Hegel’schen Diktion, die Simanowski hier mit Genuss aufgreift, nur „Geschäftsführer des Weltgeistes“ – eines Weltgeists, der sich ihrer bloß bedient, um sich selbst zu realisieren und so alle Herrschaft in sich zu vereinen. Der Laden gehört, mit anderen Worten, immer schon jemand anderem, auch wenn dieser oder dieses andere sich in der Menschheitsgeschichte erst langsam entbirgt.
Derlei Herrschaft der Maschinen bzw. Selbstverwirklichung der Vernunft wird klarerweise nicht unwidersprochen vonstattengehen. Hier stößt Simanowskis Spekulation, und der Autor weiß das, an reale wie auch philosophische Grenzen. Real insofern, als die Silicon-Valley-„Digerati“ sich nicht einfach entmachten lassen werden, sprich, sich nicht ohne Weiteres ins fernabgelegene neuseeländische Prepper-Exil zurückziehen werden und den algorithmischen Weltgeist ungehindert sein Geschäft verrichten lassen. (Zu viel, auch monetär, steht dabei auf dem Spiel.) Und philosophisch tut sich angesichts dieses teleologischen Szenarios ebenfalls ein schwerer Brocken auf: nämlich die Frage, ob der Masteralgorithmus, so man ihm freien Lauf lässt, wirklich so anthropozentrisch verfasst ist, dass er als oberstes Ziel die Weltherrschaft – ein durch und durch „humanistisches“ Ansinnen – verfolgt. Könnte es nicht auch sein, dass er aus seinem Deep-Learning-Getriebe heraus ganz andere Zielsetzungen entwickelt, die mit menschlichem Gewese, auch eine mögliche Weltrettung betreffend, gar nichts am Hut haben? Prioritäten, die zwar herrschaftlich wirken mögen (weil wir sie nicht mehr verstehen), aber auch der Anthropozän-Agenda längst Ade gesagt haben (weil es womöglich gar nichts mehr zu retten gibt)? Am Weiterdrehen dieser, bei Simanowski nicht mehr eingelösten, spekulativen Schraube hätte vermutlich auch Heidegger Gefallen gefunden.

 

 

1 Roberto Simanowski, Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz. Wien: Passagen 2020; eine sich teils mit diesem Buch überschneidende englischsprachige Essaysammlung ist 2018 unter dem Titel The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas bei MIT Press (Cambridge/London) erschienen.