Heft 3/2021 - Digital Ecology


Gaia, Cyborgs und das Novozän

Versuch der Annäherung an eine digitale Ökologie mit James Lovelock

Christian Höller


Eigentlich hätte dies ein Interview werden sollen. James Lovelocks 2019 erschienenes Buch Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence enthält in aller Knappheit das, was man unter dem Begriff „digitale Ökologie“ zusammenfassen könnte. Nicht mehr der Mensch des Anthropozäns, so die Hauptthese des 2020 auch auf Deutsch erschienenen Büchleins, sei in der Lage, etwas Substanzielles gegen die Klimakatastrophe auszurichten, vielmehr sei der einzige Hoffnungsträger die gerade in Entwicklung befindliche Hyperintelligenz – Lovelock nennt sie „Cyborgs“ oder auch „elektronisches Leben“ –, die womöglich Mittel und Wege finden wird, um das Weltklima zumindest für einige weiterhin bewohnbare Regionen zu stabilisieren. Ob dies noch rechtzeitig geschieht, bevor der Großteil der Menschheit der überwiegend von ihr selbst verursachten Überhitzung zum Opfer gefallen ist, lässt Lovelock offen. Sicher ist für ihn nur, dass ein neues Zeitalter anbrechen wird, das Novozän (ein bewusster Pleonasmus, da das griechische „kainós“, von dem das Suffix „-zän“ herrührt, bereits „neu“ bedeutet). Ob Menschen in dieser großteils digital bestimmten Welt des „neuen Neuen“ noch eine Rolle spielen werden, ist hingegen mehr als fraglich.
Um diese These und ihre weitreichenden Implikationen zu besprechen, war ein Interview mit dem Wissenschaftler, der im Juli 2021 seinen 102. Geburtstag feierte, geplant. Das Gespräch war auch bereits vereinbart und hätte auf Lovelocks Landsitz im englischen Dorset sattfinden sollen. Doch die zu dem Zeitpunkt geltenden Corona-Bestimmungen (zehntägige Quarantäne auch für Geimpfte nach der Einreise in Großbritannien, das Gleiche dann nochmals bei der Rückkehr nach Österreich) machten die direkte Begegnung realiter unmöglich. Um dennoch die eine oder andere Antwort des Autors einzuholen, folgte ein sporadischer E-Mail-Austausch, der zwar keine ausführlicheren Repliken auf die gestellten Fragen lieferte, aber doch die eine oder andere Ansage, mit der Lovelock sein lebenslanges Credo der sogenannten Gaia-Theorie und daran anknüpfend das Heraufdämmern des Novozäns umriss. Die Hoffnung auf eine ausführlichere Erklärung dessen, was den Namen „digitale Ökologie“ verdienen würde, besteht weiter, solange sich der 1919 geborene Wissenschaftler noch bester Gesundheit erfreut. An dieser Stelle müssen jedoch, der Not der Situation geschuldet, die folgenden kursorischen Bemerkungen genügen, die selbstredend mehr fragender denn explikativer Natur sind.

Elektronisches Leben
Die Kernthese von Novacene besagt, dass wir drauf und dran sind, in eine neue Epoche einzutreten, in der intelligente Maschinen – Lovelock bezeichnet sie (etwas retrofuturistisch anmutend) als „Cyborgs“1 – die nächste Stufe der Evolution des Lebens auf dem Planeten darstellen werden. Als Evidenz führt er das rasante Ansteigen von Rechenkapazitäten an, das dem berühmten Moore’schen Gesetz folgt (der jährlichen Verdoppelung von Speicher- und Übertragungsraten seit Mitte der 1960er-Jahre, einem Paradebeispiel von exponentiellem Wachstum). Nicht nur mache das maschinelle Systeme, was den Signaltransfer betrifft, zigfach schneller als das menschliche Gehirn (in der Praxis etwa zehntausendmal, wie der ausgebildete Physiker und Chemiker in bestechend-knapper Art vorrechnet).2 Vielmehr liegt darin auch der Hauptgrund für die Vermutung, dass in der beschleunigten Entwicklung auch der Keim einer neuen Lebensform enthalten sein könnte. Wann dem so sein wird, ist unklar bzw. höchst spekulativ – einziger Hinweis könnte sein, dass der Mensch aufgrund seines genetischen Bauplans etwa zehntausendmal schneller „denkt“ als Pflanzen, woraus sich in Analogie die nunmehr anstehende Wachablöse ableiten lässt. Aber zieht man die langsame Entwicklung von organischem und zumal menschlichem Leben in Betracht, könnte es wohl noch eine Weile dauern, bis ausgewachsenes elektronisches Leben das Ruder übernimmt.
Den Hintergrund dazu bilden laut Lovelock die drei großen naturwissenschaftlichen Revolutionen der Erdgeschichte: 1. vor etwa 3,4 Milliarden Jahren die ersten Photosynthesizer (ursprünglich Bakterien), die Sonnenlicht in Energie umzuwandeln begannen; 2. die von Lovelock exakt auf das Jahr 1712 datierten Anfänge des Anthropozäns, als der Brite Thomas Newcomen (ein Vorläufer von James Watt) eine Maschine erfand, mit der die in Kohle gespeicherte (Sonnen-)Energie in Arbeit umgewandelt werden konnte; und schließlich 3. die aktuelle Schwelle zum Novozän, in dem Sonnenlicht direkt in Information umgewandelt werden kann, was wiederum unseren Cyborg-Nachfolgern zur schlussendlichen Überflügelung des menschlichen Lebens verhelfen wird. Begonnen hat diese Entwicklung Lovelock zufolge schon parallel zum Anthropozän, so richtig Fahrt aufgenommen hat sie aber erst mit der Informatik und Kybernetik ab den 1940er-Jahren, wodurch die beschleunigte Evolution, mit der wir uns heute konfrontiert sehen bzw. an der wir unumgänglich teilhaben, nahezu unkontrollierbar geworden ist.
„In Wirklichkeit dreht sich das Novozän, wie das Anthropozän, um technische Wissenschaft und Ingenieurskunst. Der entscheidende Schritt, mit dem das Novozän begann, war, wie ich glaube, der Moment, in dem Computer dazu eingesetzt wurden, sich selbst zu entwerfen und zu erschaffen, so wie Alpha-Zero sich selbst beibrachte, Go zu spielen.“3 Dieser qualitative Sprung, wonach künstliche Intelligenzsysteme mehr und mehr in der Lage sind, sich selber zu konstruieren bzw. sich laufend weiter zu modifizieren, stellt einen der Hauptaspekte des anstehenden Epochenübergangs dar. Deep Learning, wie es seit geraumer Zeit in neuronalen Netzwerken implementiert ist (und beispielsweise aus einem Blick in die Augen einer Person abgeleitet werden kann, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese einen Herzinfarkt erleiden wird)4, spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Allerdings stellt Lovelock in Abrede, dass unser herkömmliches Kausalitätsdenken (wie es ausgehend von der Newton’schen Mechanik eine wichtige Grundlage des Anthropozäns gebildet hat) hierfür noch einen Erklärungswert hat. Die Autopoesis intelligenter Systeme, wie sie heute verstärkt um sich greift, sei abseits bekannter mechanischer Prinzipien angesiedelt (und vielleicht deshalb so epochensprengend).
In einer E-Mail führt Lovelock dazu aus: „Ich denke, ich habe mich stets mehr als Erfinder denn als Wissenschaftler verstanden. Und als Erfinder halte ich es für falsch, einen Computer oder Cyborg als etwas Mechanisches anzusehen. Es stimmt schon, dass Babbage den ersten funktionierenden mechanischen Computer konstruiert hat. Aber ich bin mir sicher, dass er lieber elektronische Schaltkreise verwendet hätte, wenn es diese damals schon gegeben hätte. Die Geschwindigkeit, mit der die Neuronen in unserem Körper Informationen weiterleiten, ist eine Million Mal geringer als die, mit der ein Elektron einen Kupferdraht entlangrast. Also mussten zunächst Elektronenröhren und Transistoren erfunden werden, bevor es elektronische Prozesse geben konnte.
Ich glaube nicht, dass es einen mechanischen Cyborg geben kann – etwas, worüber ich mit dem Chemiker Archer Martin lange Auseinandersetzungen hatte, der meinte, es könne eine mechanische Bewegung geben, die genauso schnell wie die elektronische sei. (Natürlich war er, nebenbei bemerkt, ein Genie.) Aber es gibt bis dato noch gar keinen richtigen Cyborg – außer jemand wie Demis Hassabis [ein britischer KI-Forscher, Anm.] konstruiert still und heimlich einen. Jedenfalls bedeutet der Riesenunterschied in der Denkgeschwindigkeit zwischen uns und den künftigen Cyborgs nicht, dass nicht auch eine Beziehung zwischen beiden möglich ist. Dazu braucht man sich nur in Erinnerung zu rufen, welches Verhältnis wir heute zum Reich der Pflanzen haben.“5

Überlebensbedingungen
Ein weiteres Merkmal des elektronischen Cyborg-Lebens macht Lovelock im evolutionären Zug der „intentionalen Selektion“ aus. Im Gegensatz zur „natürlichen Auslese“, wie sie die bisherige Evolutionsgeschichte bestimmt hat, wird sich die neue Lebensform unablässig selbst optimieren und reproduzieren – „Fehler in diesen Prozessen werden korrigiert, sobald sie entdeckt werden“6. Die zweckhafte oder eben intentionale Auslese klingt zunächst nach einem höchst anthropomorphen Konzept, und man fragt sich an der Stelle nicht ganz unbegründet, ob hier nicht doch ein kleiner „Homunkulus“ (wie dieser hartnäckige menschliche Wiedergänger früher einmal genannt wurde) im Hintergrund des schönen neuen Novozäns herumspukt. Oder anders formuliert: Wer oder was wird die betreffende Intention, den Zweck der Selektion, festlegen? Lässt sich plausiblerweise davon ausgehen, dass (humane) Konzepte wie Absicht und Zweck noch eine Rolle spielen, sobald das elektronische Leben sich selbst zu organisieren und optimieren beginnt? Wohlgemerkt dominierte in der Geschichte der Robotik stets die humanoide Anmutung, der menschenähnliche Anschein, der zum berühmten unheimlichen Graben zwischen Echt und Fast-Echt führte. Doch was, wenn man diese anthropozentrische Annahme über Bord wirft (und die hypostasierte Selbstregulierung des Cyborg-Lebens würde diese Option zumindest nicht ausschließen)?
Lovelock macht sich im Übrigen hinsichtlich der Menschenähnlichkeit der Cyborgs keine Illusionen. Er sieht ihre Form eher in Gestalt von Sphären heraufdämmern, ihre Kommunikationsform eher in der Telepathie und ihren Bewegungsmodus eher in der quantenphysikalischen Teleportation:7 „[Es] wäre ganz offensichtlich falsch, sich die Bewohner einer neuen elektronischen Biosphäre als Roboter oder in irgendeiner Weise menschenähnlich vorzustellen. Sie könnten die Form eines parallelen Ökosystems annehmen, das vom Mikroorganismus bis zu tiergroßen Entitäten reicht. Mit anderen Worten, es würde sich um eine andere Biosphäre handeln, die mit derjenigen, die wir jetzt haben, koexistiert. Ihre natürliche Sprache wäre nicht dieselbe wie unsere.“8
Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine ist, selbst wenn man vom lange dominierenden Konkurrenzgedanken abrückt und stattdessen das heute vielfach geforderte Koexistenz- bzw. Kooperationsmoment in den Mittelpunkt rückt, gelinde gesagt vertrackt. Die menschliche Intelligenz wird laut Lovelocks Evolutionsansatz eine Cyborg-Intelligenz hervorbringen, die womöglich (und die „Chancen“ dafür stehen gut) keinen rechten Zweck mehr für den Menschen sehen werden, sobald diese Entwicklung voll in Gang gekommen ist. Im posthumanistischen Denken machte sich diesbezüglich oft eine gewisse Melancholie breit, doch Lovelocks Credo geht in eine völlig andere Richtung: „Seien Sie deshalb nicht betrübt. Wir haben unsere Rolle erfüllt.“9 Nämlich – um zum Kern seiner These vorzudringen – Geburtshelfer*innen ebenjener Cyborg-Intelligenz gewesen zu sein, welche den Fortbestand des Planeten sichern soll. Aufgrund des derzeitigen Zustands der Erde hätten Mensch und Maschine gar keine andere Wahl, als über alle Speziesgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten, nicht zuletzt um das gemeinsame planetarische Habitat zu erhalten, das Cyborgs wie Menschen, und vielen anderen mehr, ihr Überleben garantiert.
Möglicherweise werden elektronische Lebensformen irgendwann andere Überlebensbedingungen haben als Menschen, doch selbst wenn dem so ist, so Lovelocks wohlwollendes Kalkül, wird ihnen zuoberst die Bewohnbarkeit des Planeten ein Anliegen sein – oder zumindest die Erhaltung einer solchen Zone, in der sie sich selbst reproduzieren können. Zwar werden sie irgendwann „ganz und gar frei von menschlichen Befehlen sein, denn sie werden sich durch einen selbst geschriebenen Code entwickelt haben.“10 Doch dies bedeutet nicht, dass sie damit notwendig auch die Voraussetzungen ihrer eigenen Reproduzierbarkeit missachten werden. Vielmehr könnte darin die Saat der (vielleicht einzig möglichen, speziesübergreifenden) ökologischen Errettung liegen.

„Gaia wird den Frieden bewahren“
Auftritt Gaia. Kaum ein anderes Konzept, von Lovelock ab Mitte der 1960er-Jahre ersonnen und auf Vorschlag des Schriftstellers William Golding nach der griechischen Göttin der Erde benannt, hat die Erd- und Umweltwissenschaften in den letzten 50 Jahren so durcheinandergewirbelt wie dieses. Fernab jeder New-Age-Mythologie, als welche man die Gaia-Hypothese lange Zeit mutwillig missverstehen wollte, ging es Lovelock mit der Idee der sich selbst regulierenden Erde primär um ein neues Verhältnis von Biologie, Geologie und Atmosphärenphysik bzw. -chemie. Die komplexen Wechselwirkungen dieser drei Felder waren davor schlichtweg nicht auf den disziplinären Programmzetteln gestanden – bis Lovelocks These, später mit einer Vielzahl anderer Wissenschaftler*innen, etwa der Biologin Lynn Margulis, weiterentwickelt, nach jahrzehntelangen Anfeindungen endlich Gehör fand. Heute, Ironie der Geschichte, gilt die Idee als Common Ground in den Erdwissenschaften bzw. der sogenannten Geophysiologie. Doch lange Zeit herrschte Krieg um den Ansatz, die Biosphäre bzw. das Ineinandergreifen unterschiedlicher Biosphären als riesiges dynamisches, sich selbst regulierendes System zu begreifen, das selbst die Bedingungen mit hervorbringt, in denen es gedeihen kann.
Auch heute noch ist Lovelock vorsichtig, wenn es um die Ausformulierung der Gaia-Idee geht, über die er im Lauf von 40 Jahren immerhin gut sieben Bücher11 geschrieben hat: „Ich hätte von Anfang an ausdrücklich darauf hinweisen sollen, dass selbst regulierende Systeme – etwa ein Backrohr, das unabhängig von der Temperatur in der Küche seine Innentemperatur konstant hält, oder das physiologische System, das unsere Körpertemperatur bei rund 37 Grad stabil hält, oder eben meine Version von Gaia, welche die Temperatur auf der Erde auf einem Level hält, das mit Leben kompatibel ist –, dass all diese Systeme sich nicht wirklich verbal erklären lassen. Newton war der Erste, der diese Beschränkung der geschriebenen und gesprochenen Sprache erkannt hat. Also sah er sich gezwungen, die unendliche Wiederholung von Rechenoperationen einzuführen. Eine starke Evidenz zugunsten von Gaia als eine Art Betriebssystem der Erde bildet übrigens die Tatsache, dass sich das Leben drei Milliarden Jahre lang gehalten und weiterentwickelt hat, obwohl in diesem Zeitraum die Sonneneinstrahlung um rund 20 Prozent stärker geworden ist.“12
Die Hitzebedrohung stellt bekanntlich eines der Hauptprobleme der inzwischen weithin anerkannten – und von Lovelock als einem der Ersten mitprognostizierten – Klimakatastrophe dar. Dennoch ist er nach wie vor eher zurückhaltend, was die Berechnungs- und Simulationsmodelle etwas des UN-Weltklimarats betrifft. Zu linear und eindimensional gedacht erscheint ihm die dabei angewandte Mathematik, zu unterkomplex die dabei berücksichtigten Faktoren und Variablen. „Mir geht es darum, dass die Erderwärmung natürlich real ist, aber dass die Folgen, die derzeit von Wissenschaftlern, Politikern und Grünen vorausgesagt werden, nicht unbedingt die sind, die wir am meisten fürchten sollten“13, schreibt er in Novacene. Tatsächlich könnte alles noch viel desaströser ausfallen, wenn, wie er früher einmal ausgeführt hat, die Temperaturentwicklung nicht linear, sondern wie häufig bei selbst regulierenden Systemen in Phasensprüngen verläuft.14 Auch wird die momentan fast ausschließliche Konzentration auf die Reduktion des CO2-Ausstoßes der Gesamtproblematik nicht gerecht, da etwa auch die Konzentration anderer Atmosphärengase, der Säuregehalt der Weltmeere, die Ausbreitung der für die Wolkenbildung maßgeblichen Meeresalgen, der sogenannte Albedo-Faktor [das von der Erdoberfläche reflektierte Sonnenlicht], und vieles andere mehr in Betracht gezogen werden müssten, um zu verlässlicheren Temperaturprognosen zu kommen.
„Natürlich wissen wir, dass der Ausstoß von Treibhausgasen (CO2, Methan [CH4], Fluorkohlenwasserstoff [FCKW] etc.) reduziert werden muss. Und natürlich muss die Kohlenstoffindustrie minimiert werden. Man sollte das als sofortige Verpflichtung und nicht als eine immer noch ausbeutbare Einnahmequelle betrachten. Aber es braucht Zeit und vor allem Energie, um den Schaden, den wir angerichtet haben, zu beheben. Vor allem aber braucht die Idee der Nachhaltigkeit eine gute Buchführung, und das ist die Ebene, auf der sich die Digitalisierung am nützlichsten erweisen kann.“15
Macht man von hier aus den Sprung in die heraufdämmernde Cyborg-Ära, so könnte man sich fragen, inwiefern Gaia in diesem Szenario überhaupt noch eine Rolle spielen wird. Vielleicht lassen die immer feinteiligeren Feedbackmechanismen, auf denen die Selbstregulierung der künftigen elektronischen Lebensformen basieren wird, die Idee des einen großen Regulators schlichtweg überflüssig erscheinen. Doch hier kommt wieder der Atmosphärenphysiker ins Spiel, der anmerkt, dass auch elektronisches Leben bei über 50 Grad Celsius nicht gedeihen kann – also sollten Menschen und Cyborgs fortan ein gemeinsames Ziel haben, nämlich „die Erhaltung der Erde als bewohnbarer Planet“16. Egal, wie feindlich oder wohlgesonnen sich beide angesichts unvermeidlicher Hierarchiedifferenzen in Hinkunft gegenüberstehen mögen, die eine Sache wird sie stets einen: die Reduktion der Überhitzung, die das Überleben beider garantiert. Genau in diesem Sinn lässt sich sagen, wie Lovelock dies mit aller Nonchalance tut, dass Gaia „den Frieden bewahren [wird]“17 – auch wenn es für zahlreiche Arten möglicherweise schon viel zu spät ist.

Machines of Loving Grace
Dass es für die langfristige bzw. großflächige Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeit der Erde bereits zu spät ist, ist einer der Grundgedanken, der sich seit dem Aufkommen des Anthropozän-Denkens hartnäckig hält, ja auf gewisse Weise dessen Kern ausmacht. Lovelock nennt das Anthropozän, dessen Begriffsprägung er im Übrigen dem amerikanischen Ökologen Eugene Stoermer (und nicht wie gemeinhin üblich dem Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen) zuschreibt, auch das „Zeitalter des Feuers“. Auch hier gibt sich Lovelock nicht als der vorbehaltlose Pessimist, der er angesichts der bereits angerichteten Schäden eigentlich sein müsste. Vielmehr vertritt er eine ökomodernistische Haltung – eine realistische, faktenbasierte Perspektive, die sich durchaus auch mit Geo-Engineering anfreunden kann (so sich die Maßnahmen mit dem größeren Ganzen, das es im Auge zu behalten gilt, vereinbaren lassen). Tatsächlich könnte KI gerade in Bezug auf diese größere Perspektive eine kritische Rolle spielen, da sie mit Daten bzw. deren rekursiver Verarbeitung hantieren kann, denen kein menschliches Gehirn mehr gewachsen ist.
Diesbezüglich erinnert Lovelock an ein berühmtes Gedicht von Richard Brautigan – „All Watched Over by Machines of Loving Grace“ [„Behütet von Maschinen voller Liebe und Güte“] (1967). Der Hippie-Autor trachtete darin nach einer Fusion von romantischem Zurück-zur-Natur-Idealismus und der damals um sich greifenden Kalter-Krieg-Systemtheorie basierend auf Computern und Kybernetik. „Die Idee war, dass Regierungen und große Unternehmen verdrängt werden könnten durch die Schaffung eines wohlgesonnenen Cybersystems, das Hand in Hand mit der Natur arbeitete.“18 Bekanntlich hat sich diese Vision nicht wirklich erfüllt, auch wenn heute, ein halbes Jahrhundert später, allmählich in den Blick gerät, welches Versprechen die mögliche Zusammenarbeit von Ökologie und Kybernetik in sich birgt. In einer E-Mail umreißt Lovelock den Zusammenhang so:
„Der Begriff ‚digitale Ökologie‘ bringt prägnant auf den Punkt, worum es in der Gaia-Theorie geht. In den 1970er-Jahren hat Lord Robert May, der später Präsident der Royal Society wurde, ein Buch über die digitale Modellierung von Ökologie veröffentlicht. Darin waren die zahlreichen Versuche einer solchen Modellierung, die es bis dahin gegeben hatte, zusammengefasst – mit dem Fazit (so wie Alfred Lotka und Vito Volterra schon herausgefunden hatten), dass jeder Versuch, mehr als zwei Spezies modellieren zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Lord May ging aber noch weiter und merkte an, dass die Berechnung von Systemen mit mehreren Spezies prinzipiell zu chaotischen Ergebnissen neigt. Eine ähnliche Tendenz zu chaotischem Verhalten wurde auch in anderen Multikomponentensystemen, etwa der Meteorologie von Edward Lorenz, beobachtet.
1991 reichte ich ein Mehr-Spezies-Modell, das ohne Chaos auskommt, zur Publikation in den Philosophical Transactions of the Royal Society ein. Die Fachbegutachter*innen lehnten es ab, doch kurze Zeit später setzte Lord May als Mitglied der Royal Society die Veröffentlichung durch. Der Titel lautete A numerical model for biodiversity (1992). Gleich zu Beginn geht es um meine Verbundenheit gegenüber Alfred Lotka, der als Erster erkannte, dass man Ökosysteme nicht modellieren kann, wenn man ihre Umgebung nicht miteinbezieht.“19
Um diese Umweltbeziehungen Gaia-konform miteinkalkulieren zu können – und nicht etwa bei reduktiven CO2-Ausstoß-Modellen stehen zu bleiben –, wird es wohl oder übel die Hyperintelligenz der Cyborgs brauchen. Maschinen, die so ihre rettende Güte unter Beweis stellen können, auch wenn diese nur in Bits und Bytes besteht. Überhaupt sieht Lovelock, aber dies eröffnet nochmals ein ganz eigenes Thema, die letzte Stufe der Evolution, das Ziel intelligenten Lebens, in der kompletten „Umwandlung des Kosmos in Information“20. Ob das organische Leben oder die irdische Materialität dann überhaupt noch eine Rolle spielen, ist ungewiss. Ob Gaia das alles so einfach hinnehmen wird, wohl ebenso.

 

 

[1] Vgl. James Lovelock, Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. Aus dem Englischen von Annabel Zettel. München: C. H. Beck 2020, S. 46.
[2] Vgl. ebd., S 102.
[3] Ebd., S. 105.
[4] Vgl. ebd., S 103.
[5] E-Mail an den Autor vom 3. Juli 2021.
[6] Lovelock, Novozän, S. 106.
[7] Vgl. ebd., S. 117, 122 und 125.
[8] Ebd., S 121.
[9] Ebd., S 158.
[10] Ebd., S. 117.
[11] Mit so sprechenden Titeln wie Gaia. A New Look at Life on Earth (1979), The Ages of Gaia. A Biography of Our Living Earth (1988), Gaia. The Practical Science of Planetary Medicine (1991), Homage to Gaia (2000), The Revenge of Gaia (2006), The Vanishing Face of Gaia. A Final Warning (2009) und A Rough Ride To The Future (2014).
[12] E-Mail an den Autor vom 3. Juli 2021.
[13] Lovelock, Novozän, S. 77.
[14] Vgl. James Lovelock, The Vanishing Face of Gaia. A Final Warning. London 2009, S. 23ff. und ders., A Rough Ride to the Future. London 2014, S. 85ff.
[15] E-Mail an den Autor vom 5. August 2021.
[16] Lovelock, Novozän, S. 127.
[17] Ebd., S. 47.
[18] Ebd., S. 126.
[19] E-Mail an den Autor vom 22. Juli 2021.
[20] Lovelock, Novozän, S. 148.