Heft 3/2021 - Lektüre



Elad Lapidot:

Anti-Anti-Semitismus

Eine philosophische Kritik Übersetzung: Jan Eike Dunkhase

Berlin (Matthes & Seitz) 2021 , S. 74 , EUR 28

Text: Peter Kunitzky


Der Beispiele gibt es viele – das olympische Judoturnier der Männer, zuvor die Baerbock-Moses-Affäre und wieder davor die europaweiten Ausschreitungen anlässlich des wieder aufgeflammten Nahostkonflikts. Und sie alle zeigen: Die Hydra des Anti-Semitismus, so die durchgängige, phänomenologisch inspirierte Schreibweise in diesem Buch, ist, auch ein Dreivierteljahrhundert nach der Apokalypse der Shoah, unvermindert lebendig und erhebt ihr Haupt bei jeder sich (nicht) bietenden Gelegenheit. Ein Ungeheuer, das natürlich weiterhin dekaptiert werden muss, und in dieser Auseinandersetzung, daran lässt der Autor des vorliegenden Buchs, der 1976 in Jerusalem geborene und in Bern und Berlin Religionsphilosophie und Jüdische Studien lehrende Elad Lapidot, von Anfang an keinen Zweifel, verbietet sich jede Neutralität, weshalb er dann auch augenblicklich in diesen „Krieg“, so seine durchaus martialische Wortwahl, eintritt.
Er tut dies aber nicht, indem er sich direkt an die Front begibt, sich also aktuell brisanten Fragen widmet (wie zum Beispiel der, ob die BDS-Bewegung antisemitisch gefärbt ist), sondern gleichsam von der Etappe aus. Und aus dieser sicheren Distanz, die ja jeder Theorie nottut, nimmt er nun seine sich dem Anti-Semitismus widersetzenden Waffenbrüder in den Blick, die sich unter dem sinnfälligen Banner des Anti-Anti-Semitismus, einer vor ca. zehn Jahren von Jonathan Judaken geprägten Begrifflichkeit, sammeln (lassen). Bei dieser Truppeninspektion glaubt Lapidot dann aber, eine frappierende Gemeinsamkeit im Denken seiner Vorkämpfer entdecken zu können, die – so seine These – darin zum Ausdruck kommt, dass man dem Jüdischsein jede echte epistemische Qualität abspricht. Mit anderen Worten betrachtet der Anti-Anti-Semitismus den Anti-Semitismus nicht als eine Philosophie, die dazu in der Lage wäre, ein wenn auch noch so irreführendes Wissen bereitzustellen, sondern vielmehr als eine Art Pathologie, die sich allein in Imaginationen oder Konstruktionen ergeht: Ersteres lässt sich geradezu paradigmatisch in Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung erfahren, wo uns die imaginäre antisemitische Erzeugung des Juden durch Projektion vor Augen geführt wird, während Sartre in seinen Überlegungen zur Judenfrage – und in vollkommener Übereinstimmung mit seiner Bewusstseinsphilosophie – die Möglichkeit einer faktischen Variante dieser Schöpfung entwickelt. Der Anti-Semitismus wird, kurzum, vom Anti-Anti-Semitismus nicht dafür kritisiert, wider Juden zu denken, sondern dafür, überhaupt über Juden zu denken, sie als Idee oder Begriff, als eine Denkfigur zu fassen, der irgendein Gehalt zuerkannt werden könnte. Diese substanzielle Entleerung des Plurals Juden, dem solcherart jede mögliche Essenz entzogen wird, befindet sich damit zwar, so ein möglicher Einwand, durchaus im Einklang mit der die Moderne rundweg auszeichnenden Tendenz, kollektive Identitäten aufzulösen und die sie begründenden Kategorien wie Rasse, Klasse oder Geschlecht zu verabschieden. Lapidot legt nun aber dar, wie eine solche „Entepistemologisierung“, das heißt Leugnung des Jüdischseins, nicht nur dazu führt, antisemitische Haltungen zu ächten, sondern auch die Selbstbekräftigung des Judentums torpediert, wodurch sich, so seine provokante Pointe, der Anti-Anti-Semitismus dem Anti-Judaismus schließlich sogar auf paradoxe Weise annähert.
Und so macht sich der Autor im zweiten Teil des Buchs daran, den historischen Diskurs des Anti-Semitismus – der sich genau genommen in den traditionellen, religiös verstandenen Anti-Judaismus, den eigentlichen, rassistischen Anti-Semitismus und den politischen Anti-Zionismus teilt – in die moderne und zeitgenössische Epistemologie, das heißt den Anti-Anti-Semitismus, einzulassen und im Zuge dessen herauszupräparieren, wie sehr die Auslöschung des Jüdischen auch dort als ein zentrales Motiv gelten darf, sodass man, überspitzt formuliert, den Ursprung des Anti-Anti-Semitismus beinahe im Anti-Semitismus vermuten könnte. Und auch dies vollzieht sich wieder, so wie im ersten Teil, als hermeneutische Übung an historischen Schlüsseltexten, beginnend mit den Schriften des Rassentheoretikers Ernest Renan: Dieser wähnt nicht nur die Semiten, und darunter werden ja, was oftmals übersehen wird, sowohl die Juden wie auch die Muslime gefasst, den Ariern aufgrund ihrer – ungeistigen – Sprache und – unreflektierten, eher intuitiven – Religion prinzipiell unterlegen; nein, er weist auch an den assimilierten Juden die Kraft des europäisch-christlichen Zivilisationsprojekts nach, in dessen Rahmen die Ethnizität letztlich zugunsten der politischen Figur der aufgeklärten, modernen Menschheit, des Nationalstaats, wenn nicht aufgehoben, so doch transzendiert wird. Die Assimilation der Juden kann aber ebenso wie als Sieg der arischen Zivilisation auch als Sieg des Judentums interpretiert werden, wie etwa von Karl Marx im Zusammenhang der Mitte des 19. Jahrhunderts virulent gewordenen „Judenfrage“ vorgeführt, für den das Judentum als soziopolitische Form alleine deswegen verschwindet, weil das Phänomen des bürgerlichen „Geldmenschen“ ab nun die Szene beherrscht, das heißt weil die Christen gleichsam kollektiv zu von Eigennutz getriebenen Juden, so das gängige Vorurteil, mutiert sind. Demgegenüber macht für die politischen Anti-Semiten, kulminierend in Hitler, das assimilatorische Untertauchen der Juden jede bisherige soziale oder kulturelle Auffälligkeit zunichte, was zu ihrer buchstäblichen Unsichtbarkeit führt, eine Unsichtbarkeit, der man begegnet, indem man die Juden zuerst zu kennzeichnen beginnt, um sie schließlich, nachdem sie als innerer Feind oder schädlicher Parasit, jedenfalls als definitiv fremdes Element identifiziert wurden, gänzlich auszumerzen.