Heft 3/2021 - Lektüre



Gabu Heindl:

Stadtkonflikte

Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung

Berlin (Mandelbaum Verlag) 2020 , S. 75 , EUR 20

Text: Friederike Landau


Das im Mandelbaum Verlag erschienene, erdbeereisrote Buch der Wiener Architektin Gabu Heindl bietet einen dichten Überblick über radikaldemokratische Ansätze von Architektur und Stadtplanungstheorie in Zeiten politischer Umbrüche. Diese politischen Transformationsprozesse rahmt Heindl in der Ära der „Postpolitik“. Die Vorsilbe „post“, also die Einordnung „nach“ der Politik, verweist auf ein angenommenes Ende oder die Abwesenheit von Politik. Mit postpolitischen Tendenzen sind Prozesse der Aushöhlung, Verengung, Technokratisierung und (Über-)Bürokratisierung politischer Entscheidungsprozesse gemeint, die dazu führen, dass diese nicht als lebhaft zu verhandelnde und veränderliche Positionen im politischen Raum wahrgenommen werden, sondern als gegebene, schwer verrückbare Tatsachen behandelt werden. Entgegen dem postpolitischen Credo „There is no Alternative“ (TINA), in den 1980er-Jahren durch Margaret Thatcher und ihren Regierungsstil der „harten Hand“ bekannt geworden, plädiert Heindl für die Öffnung, Diversifizierung und auch Politisierung stadtplanerischer Prozesse – denn Politik ist nie nicht da. Hierzu führt Heindl den Tropus der politischen Differenz ein, welcher grob (jedoch nie sauber abgeschlossen) zwischen „der Politik“ und „dem Politischen“ unterscheidet.1 „Die“ Politik meint routinisierte, institutionalisierte und normalisierte Verfahrens- und Regierungsweisen, während „das Politische“ die immerwährend konfliktuelle, umstrittene Dimension, kurzum den Konflikt als Gründungmoment von „Politik“ umschreibt. Im Kontext der Postpolitik nimmt „die Politik“ überhand und versucht, die störenden Hinterfragungen „des Politischen“ zu übertönen.
Als Kontrapunkt zur postpolitischen These betont Heindl in architektonischen und stadtplanungsbezogenen Kontexten, dass Entscheidungen stets „strittige Setzungen“, Ergebnisse von umkämpften Positionen sind. „Setzung“ versteht Heindl sowohl räumlich als Be-Setzung als auch normativ im Sinne von Fest- oder Voraus-Setzung. Eigens führt die Autorin die „vermessene“ Forderung als politische Praxis der Herausforderung von ausschließenden, diskriminierenden oder das Politische unterdrückenden Setzungen ein. Vermessenes Fordern gilt als „Möglichkeitsraum für zukünftige Aneignung“, welches sowohl unerhörten als auch bis dato ungehörten Ansprüchen Gehör verschaffen kann.
Für Heindl steht die Politisierung der Stadtplanungs- und Architekturpolitik oben auf der Agenda. Statt politische Aushandlungsprozesse als vermeintlich neutral zu verstehen und somit im schlimmsten Fall zu entpolitisieren, positioniert Heindl ihr theoretisches und aktivistisch-praktisches Anliegen in Stadtkonflikte als unmissverständlich links und radikaldemokratisch. Das Radikale an dieser Demokratieauffassung entnimmt Heindl postmarxistischen und poststrukturalistischen Hegemonietheorien, geprägt von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie Oliver Marchart. Im vielschichtigen Milieu von Theorien über Konflikt und Gemeinschaftsbildung erklärt Heindl leichtfüßig Begriffe wie „Kontingenz“, also die radikale Nicht-Notwendigkeit letzter Gründe wie Wahrheit, Vernunft, Religion oder „der Politik“.2 Diese konzeptuellen Grundlagen einer radikaldemokratischen Architektur- und Stadtplanungstheorie verwebt die Autorin elegant mit informationsgespickten Erzählungen über das Rote Wien (1919–34). Zwar dient diese historische Episode sozialdemokratischer Bau- und Wohnpolitik als Fallbeispiel; Heindl drängt jedoch auf eine zeitgenössische Aktualisierung dieser außergewöhnlich gemeinschaftsorientierten Wohnungspolitik, um auch heute (wieder) „vermessene“ Forderungen zu erheben, was das Bauen betrifft.
In ihrem queerfeministischen Anliegen verschenkt Heindl leider an manchen Stellen Möglichkeiten, selbst „vermessen“ zu fordern/theoretisieren: Bei Begriffen wie „Anwaltsplanung“ oder „Masterplan“ differenziert sie nicht durch sonst konsequentes Gendern. Über die sprachliche Feinheit hinaus wäre es spannend, noch mehr über die konzeptuellen Konturen einer radikaldemokratischen Anwält*innenplanung zu erfahren. Liegt vielleicht im Gender-Stern das Moment des Politischen für eine neue, intersektionale Hegemonie, die antineoliberale, antisexistische, antirassistische und queere Stadtutopien miteinander verwebt? Als Vorgeschmack auf eine solch radikaldemokratische Architektur und Stadtplanung, die über das männer*dominierte Default-Setting hinausgeht, nimmt uns Heindl letztlich mit zu konkreten Bauprojekten, in denen sie selbst vermessen baut: im Gefängnis, in der Schule und im öffentlichen Raum, geschützt durch einen „Nicht-Bebauungsplan“.
Stadtkonflikte zeigt sich als reichhaltige Lektüre, die das Bewusstsein für die immerwährende Konflikthaftigkeit im städtischen Alltag schärft. Konflikt ist gleichzeitig Ausgangspunkt radikaldemokratischer urbaner Praxis und „unmögliches Ziel“. Auch die Konstruktion „Stadt“ artikuliert sich durch unauslöschlichen Konflikt immer wieder neu. Letztlich bleiben sowohl Politik als auch das Politische in der Stadt unbegründbar und somit immer veränderbar. In dieser radikalen Offenheit stehen aktivistische Allianzen zur solidarisch-intersektionalen Stadtgestaltung einer radikaldemokratisch(er)en Zukunft in den Startlöchern.

1 Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010.
2 Vgl. Friederike Landau/Lucas Pohl/Nikolai Roskamm (Hg.), [Un]Grounding. Post-Foundational Geographies. Bielefeld 2021.