Heft 3/2021 - Artscribe


Kathi Hofer – Arbeiterinnen verlassen die Fabrik

9. Juli 2021 bis 21. August 2021
kunstraum pro arte / Hallein

Text: Christina Töpfer


Hallein. Wenngleich sie nicht unmittelbar sichtbar wird, setzt die Szene der Arbeiterinnen und Arbeiter, die fröhlich plaudernd und in kleinen Grüppchen aus dem Tor der Lumière-Werke in Lyon für ihre Mittagspause strömen und nach links und rechts aus dem Bild treten (La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon), den Ton für Kathi Hofers Ausstellung Arbeiterinnen verlassen die Fabrik. Doch nicht nur das, der knapp einminütige Stummfilm aus dem Jahr 1895, der als erster Film überhaupt in die Geschichte eingegangen ist und dessen Titel die Künstlerin für ihr Projekt entlehnt, schlägt zugleich eine Brücke zur Geschichte Halleins. Überregional bekannt sind die „Tschikweiber“, die Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der Halleiner Zigarrenfabrik arbeiteten und dort nicht nur besser als alle anderen Bewohner*innen der Stadt verdienten, sondern auch gewerkschaftlich organisiert waren, sich politisch engagierten und für ihre Zeit überaus emanzipiert und selbstbewusst auftraten.
In ihrer eigenen Wohnung in Berlin während einem der Lockdowns des Jahres 2020 arbeitend, imaginiert die Künstlerin den Alltag der „Tschikweiber“: „Durch das Verlassen des Fabrikgebäudes löst sich ihre Kollektividentität auf und jede tritt für sich in einen neuen Raum ein. Sie bilden neue Gruppen, freundschaftlich verbunden, und gehen, schlendern oder hetzen an den Häusern der Halleiner Altstadt vorbei. So stelle ich mir vor, dass es sich zugetragen hat. Und ich verlasse die Wohnung, um eine Runde um den Häuserblock zu gehen.“
Das kollektive Verrichten einer Tätigkeit und die daraus resultierende Verbundenheit, wie sie den Alltag der Arbeiter*innen in den Werken der Brüder Lumière wie auch jenen der „Tschikweiber“ prägten, scheinen für Hofer in weiter Ferne zu liegen. Das ohnehin relativ einsame kreative Arbeiten zu Hause oder im Studio hat durch die pandemiebedingte Isolation noch zugenommen. In diesem Sinne ist die im Halleiner kunstraum pro arte zu sehende und drei Räume umfassende Ausstellung auch als eine Art Dokumentation des künstlerischen Schaffens in Zeiten der Pandemie zu lesen. Auf eine Zeichnung des Philosophen Ernst Mach Bezug nehmend, der aus subjektiver Sicht darstellte, wie seine rechte Hand einen Stift hält, präsentiert Kathi Hofer in Arbeiterinnen verlassen die Fabrik eine umfassende Serie von Fotografien, in welchen sie ihre eigene rechte Hand beim Halten eines Bleistifts aufgenommen hat.
Die dargestellten Szenen ähneln einander, doch geben winzige Details Hinweise auf den Fortlauf der Zeit: Stets ist es ein anderer Bleistift, den die Künstlerin zückt; die Farbe ihres Sweatshirtärmels ändert sich und impliziert einen neuen Tag; der zu sehende Ausschnitt des Schreibtischs ist mal mehr, mal weniger aufgeräumt; Laptop und Notizbücher wechseln einander auf der Arbeitsfläche ab oder sind ausschnitthaft auch gemeinsam im Bild zu sehen; an einer Stelle findet sich auch eine ältere Aufnahme, die während eines Artist-in-Residence-Aufenthalts der Künstlerin in Tokio entstand, worauf neben der Jahreszahl nur die andere Farbe des abgebildeten Schreibtischs schließen lässt (Figur 5, 2019); auf einem anderen Bild hält die Künstlerin den Stift in der linken statt in der rechten Hand. Es scheint, als dienten diese diaristischen Porträts auch einer Selbstvergewisserung der eigenen, oftmals immateriellen Arbeit und als Mittel, Kontinuität in einer von Unsicherheit, gleichermaßen von Stagnation wie Umbruch geprägten Zeit zu wahren.
Immer wieder eingestreut finden sich Referenzen auf den Ausstellungsort und die Geschichte Halleins. Im zweiten Raum ist eine Replik des Arbeitstischs der Künstlerin als ihr „Produktionsort“ ausgestellt – eine einfache, hellgrau gestrichene und auf handelsüblichen Holzböcken liegende Arbeitsplatte (Mein Schreibtisch, 2021). Darauf wiederum liegt eine weiße Pappschachtel mit 22, unterschiedlich gut gespitzten und mit Deckweiß bemalten Bleistiften, die auf eine Schachtel Zigaretten und damit auf die „Tschikweiber“ verweist (Tschik, 2021). Im gleichen Raum auf der gegenüberliegenden Seite hängt an der Wand ein in Hallein gefundenes, aber für den Ausstellungskontext auf den Kopf gestelltes Hufeisen, das Hofer Agnes Primocic gewidmet hat, die sich in der Zwischenkriegszeit als Gewerkschafterin und Betriebsrätin in der Halleiner Zigarrenfabrik engagierte, den antifaschistischen Widerstand in Österreich wesentlich mitprägte und nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Funktionen in der Salzburger KPÖ einnahm (Marx’ Moustache [für Agnes Primocic], 2021). Der anschließende Hauptraum wiederum, der auch von dem mitten im Zentrum Halleins gelegenen Schöndorferplatz aus einsichtig ist, rekurriert auf die farbenfrohen Hausfassaden der Halleiner Altstadt, die oftmals wie Verblendungen der Giebelhäuser scheinen. Gemeinsam mit dem Salzburger Malermeister Ernst Muthwill, der in den 1980er-Jahren das Kinderzimmer der Künstlerin gestaltet hatte, hat Hofer für die Ausstellung selbst zu Pinsel und Farbrolle gegriffen und die Stellwände, auf denen ihre Fotografien präsentiert werden, in pastellenen Tönen eingefärbt.
Die Verschränkungen zwischen ihrem eigenen kreativen Schaffen in der Gegenwart und den Arbeitsformen früherer Generationen, zwischen künstlerischer Arbeit und angewandter Kunst, die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum sowie die vielgestaltigen Ansprüche, die kreativem Arbeiten im 21. Jahrhundert inhärent sind, kommen in Arbeiterinnen verlassen die Fabrik in kluger, sehr subtiler und immer wieder überraschender Weise zusammen. Anders als in der Fabrik, wie sie den Alltag der Halleiner „Tschikweiber“ oder die von den Brüdern Lumière porträtierten Arbeiter*innen prägte, lässt sich der Erfolg eines Arbeitstags im kreativen Kontext nur schwer bemessen, das künstlerisch „Produzierte“ ist nicht quantifizier- oder unmittelbar bewertbar. Vielmehr macht Kathi Hofer mit ihrer Ausstellung sichtbar, mit welchen Anforderungen die Künstlerin als Kreativarbeiterin sich konfrontiert sieht, und legt die Beharrlichkeit des künstlerischen Prozesses mit seiner kontinuierlichen Verortung gegenüber dem Außen offen.