Heft 2/2023 - Artscribe


ORLAN. Six Decades

23. März 2023 bis 30. Juni 2023
Vertikale Galerie der Sammlung Verbund / Wien

Text: Melanie Letschnig


Wien. Geht es um Möglichkeiten der Überdauerung des und der Entgrenzung vom eigenen Körper, hat kein Metier mehr Handlungsspielraum zu bieten als die Kunst. Eine einzige Existenz, die sich über die Jahrhunderte hindurchzieht, dabei Geschlecht und Erscheinung wechselt, ganz selbstverständlich und unhinterfragt wie in Virginia Woolfs Gestaltwandlerroman Orlando. Eine Figur, die ganz ausgezeichnet mit Arthur Rimbauds Worten „Je est un autre“ („Ich ist ein Anderer“ bzw. „Ich ist ein Anderes“1) korrespondiert, so geschrieben 1871 im zweiten Seherbrief an seinen Freund Paul Demeny, hinzusetzend, dass das Blech nicht von alleine als Trompete aufwacht. Dazu bedarf es diverser Eingriffe, die das Material aus der Idee heraus formen.
Beide Positionen – Orlandos Wandlungsfähigkeit und Rimbauds inwendige Perspektive als Außen – finden sich in den Werken der französischen Fleischeskünstlerin ORLAN, die Rimbaud in Interviews zitiert, wieder. Ihr widmet die Sammlung Verbund eine von Gabriele Schor kuratierte Werkschau in der Vertikalen Galerie, die über die Etagen des Gebäudes Am Hof hinweg ORLANs künstlerische Entwicklung nachzeichnet. Ein Œuvre, geprägt von einer dezidiert feministischen Haltung, die über die Jahrzehnte hinweg unterschiedliche Grade von Radikalität ausbildet, die gemessen an heutiger Ausgesprochen- und Ansprechbarkeit harmlos anmuten mögen. Im Geiste damaliger Zeiten ist sie es nicht. Ein Beispiel dafür ist die Fotoserie Action OR-lent: les marches au ralenti, dite au sens interdit („Aktion OR-langsam: Gehen im Zeitlupentempo, gegen die Einbahn“), in der die 16-jährige Künstlerin abgelichtet wird, wie sie sich bewusst im öffentlichen Raum bewegt, kein Hasten, kein Verstecken, kein Wegeilen – ein starkes Stück für 1964 und somit der Beleg dafür, wie wenig selbstverständlich diese Art der Raumnahme für Frauen der Zeit gewesen sein muss. Im Verlauf von ORLANs Schaffen wird dieses Sich-im-Raum-Platzieren in verschiedene Materialitäten gekleidet, mit denen ORLAN die Geschichte des Frauenkörpers in der europäischen Kultur- und Kunstgeschichte umschreibt und Idealisierungen gegen sich selbst kehrt.
Am eindrücklichsten findet die bewusste Vermonsterung normierter Schönheitsideale in einer Serie von OP-Performances statt, in denen ORLAN von 1990 bis 1993 Teile ihres Körpers modifizieren lässt und die „ästhetische“ Chirurgie so ihrer eigentlichen Bestimmung enthebt – nämlich den Körper dem Diktum der Masse zu unterwerfen. Hier dient nicht die Schaumgeborene als Vorlage, sondern Frankensteins Braut, deren charakteristische silberne Blitzstreifen im Haar ORLAN in diversen Abwandlungen bis heute am Haupt trägt. The Reincarnation of St. Orlan – so der Titel der OP-Serie – ist ein hochartifizielles Spektakel, das nicht nur eine eingeschworene Gemeinde im Operationssaal erreicht, sondern an einigen Terminen live in mehrere Länder übertragen wird. Die Zuschauer*innen werden so Teil der Performance, in der ORLAN – gewandet in Kreationen von unter anderem Paco Rabanne und Issey Miyake – auf dem Operationstisch liegend oder sitzend aus philosophischen Werken von beispielsweise Michel Serres und Julia Kristeva liest. Letztere ist bekannt für ihre Definition und Analyse des Abjekten als etwas Abgelehntes, das als Objekt nicht ins eigene und/oder gesellschaftliche Leben integriert werden möchte: Abfall, Müll, Erbrochenes oder – umgelegt auf ORLANs transgressive Verhässlichung – der entstellte Körper während sowie nach der Operation. ORLAN feiert diesen offenen Körper. Auch mit ihrem Carnal Art-Manifesto, veröffentlicht 1989, in dem es unter der Überschrift „Perception“ heißt: „I can observe my own body cut open without any suffering! I can see myself all the way down to the viscera, a new mirror stage. I can see to the heart of my lover, and its splendid design has got nothing to do with the soppy symbols usually drawn. ,Darling, I love your spleen, I love your liver, I adore your pancreas, and the line of your femur excites me‘.“2 Die Verletzungen von Frankensteins Braut als Liebling, die an die Bildschirme der Welt gesendete Performance aus dem OP-Saal als multimediales Spektakel. Ein logischer Schritt, die Modulierung des Körpers durch Übertragung zu erweitern. ORLANs Technophilie schlägt sich früh in ihren Werken nieder; wo der tatsächlichen Physis Grenzen gesetzt sind, übernehmen Kopierer, Computer, Kameras, das Virtuelle.
Beim Gang durch die Vertikale Galerie spannt sich der Bogen der künstlerischen Form von Fotos und Videos über Collagen und Skulpturen bis hin zu computergenerierten Bildern, in denen ORLAN als Simulation auftaucht, die jedoch eindeutig an ihr Fleisch rückgebunden wird, wenn beispielsweise das hautlose Körpermodell der Künstlerin den Pulsmesser am Oberarm und die Knieschoner farblich mit den transplantierten Hörnern im Gesicht gleichsetzt und damit offensichtlich wird, dass es in ORLANs Universum keinen Sinn mehr macht, die Prothesen des Körpers unterschiedlichen Wertigkeiten zu unterziehen. Ich ist ein gleiches Anderes.

 

 

[1] Die Übersetzung, die Curt Ochwadt vorschlägt.
[2] Orlan, Manifesto Carnal Art, in: Gabriele Schor/Catherine Morris (Hg.), ORLAN. Six Decades. Berlin 2023, S. 165.