Heft 3/2023 - Queer Postsocialist


Queer Postsocialist Diasporas

Ästhetische Methoden in Zeiten des Krieges und der Solidarität

Masha Godovannaya


Seit Putins zweite Invasion der souveränen Ukraine einen großen Krieg ausgelöst hat, hat sich die Welt verändert und ist aus dem Gleichgewicht geraten. Einmal mehr. Die katastrophalen Kriegshandlungen setzen die ukrainische Bevölkerung der direkten und tödlichen Gefahr russischer Raketen und Truppen aus und führten durch die Zerstörung der Infrastruktur sowie der wirtschaftlichen und menschlichen Beziehungen, durch Entwurzelung, Vertreibung und Zwangsmigration zu einer landesweiten humanitären Krise. Der Aufstieg ultrarechter Politik und rechtsextremer Gruppierungen kennzeichnet heute ganz Europa und auch andere Länder, während in Russland oder der Türkei die totalitäre Unterdrückungsmaschinerie mit nationalistischer, militaristischer, homophober und misogyner Rhetorik bereits auf Hochtouren läuft. Die bereits für überwunden erklärte weltweite Nahrungsmittelkrise, die neuerlichen militärischen Zusammenstöße in den postsowjetischen Grenzgebieten, bewaffnete Konflikte in Palästina, Syrien, Sudan und anderen Teilen der Welt haben im Wechselspiel mit der globalen Militarisierung die ökologische Krise der Erde weiter verschärft und stellen unser aller Zukunft infrage.
Angesichts dieser Realitäten scheint nicht nur der Begriff „Postsozialismus“, sondern auch die Zukunft queerer Postsozialismen mit ihren Solidaritäten und Affinitäten, auf deren Grundlage man alternative Gemeinschaften und queere Dokumentationsarchive aufbauen wollte, in unmittelbarer Gefahr, ausgelöscht zu werden. Irina Zherebkina, Mitgründerin des Zentrums für Gender Studies in Charkiw, schrieb bereits im März 2022 aus der zerbombten Stadt: „Putin hat die Idee der Solidarität und der Unterstützung der Völker in den Nachfolgestaaten der UdSSR korrumpiert und manipuliert, um die Massen für seinen Krieg zu mobilisieren. Wir müssen diese Idee von ihm zurückerobern und wieder zu einer Waffe des Antimilitarismus machen.“1 Zherebkina unterstreicht, dass Feminist*innen über die Grenzen hinweg im Dialog und in engem Kontakt mit den diversen postsowjetischen und postsozialistischen Gemeinschaften bleiben müssen, zu deren Aufbau sie als Herausgeberin der Zeitschrift Gender Studies seit 1998 beitragen konnte.
In einem Essay aus dem Mai 2022 unterstreicht Tatsiana Shchurko, eine queerfeministische Aktivistin und Akademikerin aus Belarus, äußerst wortgewandt, dass, „während sich Russland gegenüber dem Westen (neu) aufstellen und seine physischen, wirtschaftlichen und symbolischen Grenzen erweitern will, Amtsträger*innen im Westen nach Lösungen suchen, die einerseits die Fassade von Demokratie und Freiheit, andererseits auch ihre imperialen und ökonomischen Interessen in Lateinamerika, Afrika, dem Mittleren Osten und Asien unangetastet lassen“2. Daher, so Shchurko weiter, wirft der Krieg gegen die Ukraine wichtige Fragen der transnationalen Solidarität gegen die imperiale Kriegsführung auf – und zwar nicht im lokalen, sondern globalen Kontext. Inspiriert vom Internationalismus des Black Feminism und seinem Vermächtnis glaubt Shchurko an internationalistische antikapitalistische, antirassistische und antiimperialistische Projekte für Unterstützungsnetzwerke und Infrastrukturen. Sie insistiert auf deren Mobilisierung, um transnationale Verbindungen zur gegenseitigen Hilfe aufbauen zu können, die sich der imperialistischen, autoritären und neoliberalen Gewalt über Grenzen hinweg widersetzen.
In Anlehnung an die Argumente von Irina Zherebkina und Tatsiana Shchurko stellt das Thema der postsozialistischen Queerness in Zeiten anhaltender Kriege und transnationaler Solidaritätsnetzwerke auch weiterhin eine Herausforderung dar. Dazu habe ich Künstler*innen, Filmemacher*innen, Autor*innen und Filmkritiker*innen eingeladen, auf den folgenden Seiten über die aktuelle Lage zu berichten, und zwar mittels der ästhetischen Methoden der queeren postsozialistischen Diaspora und deren Kunst.3 Ich folge damit Neda Atanasoskis und Kalindi Voras Vorschlag, den Postsozialismus nicht nur als globalen Zustand, sondern als Methode zu begreifen, um besser auf kollektive und kollaborative Handlungen sowie politische Vorstellungen von Gesellschaftsakteur*innen zu achten, die sich der Ethik und der neoliberalen Politik westlicher Demokratien widersetzen und auf mehreren Ebenen und in verschiedenen Größenordnungen – lokal, national und transnational – agieren, um soziale Veränderungen zu bewirken.4 Ich neige zur Auffassung Gayatri Gopinaths, wonach die ästhetischen Methoden der queeren Diaspora nicht nur Migrationsbewegungen an diversen Orten verhandeln, sprich das Überbrücken von Geografien, Zeitlichkeiten, ethnischen Formationen und kolonialen wie postkolonialen Vertreibungsgeschichten, sondern auch als Archivpraktiken alternativer queerer Geschichten fungieren können.5 Damit sehe ich mich in enger Affinität mit jenen Kunstschaffenden, die auf einen ästhetischen Freiraum setzen, in dem queere Utopien entworfen und aufgebaut, Dialoge geführt, zukünftige gesellschaftliche Beziehungen, Verstrickungen und Zugehörigkeiten skizziert und Mentalitäten verändert werden können, egal, wie langsam dies vor sich gehen mag.
Was könnten solche ästhetischen Methoden der queeren postsozialistischen Diaspora sein, mit denen neue Zeit-, Raum- und Beziehungsbegriffe denkbar werden? Welche Kunst entsteht durch sie? Haben sie das utopische Potenzial, um alternative Lebenswelten und Gemeinschaftsformen hervorzubringen, welche die kapitalistische Wirklichkeit infrage stellen und deren Zeitansprüchen in Zeiten des Krieges und des weltweiten Aufruhrs widerstehen? Kann man mit ihnen Vertrauen, Respekt, Zuneigung, Sorgsamkeit, Intimität und Begehren zwischen queeren und kriegsbetroffenen Menschen über nationale Grenzen hinweg aufbauen, fördern und nähren? Welche queeren Archive, welche alternativen Modelle der queeren Bildlichkeit und Narrativität entstehen durch solche ästhetischen Methoden in der queeren postsozialistischen Diaspora?
Das sind einige Fragen, die sich die Autor*innen im Folgenden gestellt haben. In Zeiten des Krieges bleiben nur Foren wie diese, um unsere postsozialistischen queeren Beziehungen, internationalistische Solidarität und Vernetzung zu thematisieren – und damit eine Art der affektiven Arbeit zu leisten, nämlich trotz aller widrigen Umstände miteinander in Kontakt zu bleiben.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Irina Zherebkina, Dispatch from Kharkiv National University, Boston Review, 14. März 2022; https://bostonreview.net/articles/dispatch-from-kharkiv-national-university/
[2] Tatsiana Shchurko, „More and More of Us Need to Become Internationalist“: The War in Ukraine, Entangled Imperialisms, and Transnational Feminist Solidarity, LeftEast, 2. Mai 2022; https://lefteast.org/author/tatsiana-shchurko/
[3] Die Kunstbeiträge dieser Sonderausgabe wurden unterstützt vom künstlerischen Forschungsprojekt The Magic Closet and the Dream Machine: Post-Soviet Queerness, Archiving, and the Art of Resistance (AR 567) beim Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF).
[4] Neda Atanasoski/Kalindi Vora, Postsocialist Politics and the Ends of Revolution, in: Social Identities, 24/2, 2017, 139–154, hier S. 151.
[5] Gayatri Gopinath, Unruly Visions: The Aesthetic Practices of Queer Diaspora. Duke University Press 2018, S. 6.